Asyl
"Ich will sehen, wie der Hund
scheißt!", kreischte es schneidend durch das geschlossene Fenster.Das Fenster flog
auf und gab den Blick auf eine Anfangssechzigerin im Blümchenkittel aus Dralon und einer
unter einem über der Stirn geknoteten Kopftuch nach Luft ringenden Betonfrisur frei.Ihre
in Gummihandschuhen steckenden Hände waren im waffenscheinpflichtigen Gelb ein geradezu
hypnotisierender Blickfang. Aus der linken Hand schlabberte tropfend ein grober
wischwassergetränkter Putzlappen. Natürlich log die gute Frau. Unbewußte Mimikri
vielleicht.Der Schrei nach Sicherheit, auf den man als integraler Teil einer Gesellschaft,
in der Verdrängung, Verleugnung und Vertuschung ideelle Vaterfiguren sind, einfach
Anspruch haben darf. Vielleicht aber war auch nur ihre Grammatik in den Wischeimer
gerutscht. Denn Tatsache war: sie wollte weder über die Kausalität noch über den Modus
des diffizilen Vorgangs, WIE der Hund scheißt Aufklärung. Vielmehr war es das OB, oder -
noch dringlicher - das DASS, was ihre Wißbegierde speiste. Sie wurde bitter enttäuscht.
Der Hund - übrigens der meinige, der mit mir gerade die Einfamilienreihenhaus-Straße
passierte - schiß nicht. Macht der übrigens sowieso nur im Grünen. Da ist der
ausgesprochen wählerisch. Denn wie für viele andere Hunde, ist für den das Scheißen
einfach Kult. Das wußte Frau Blümchenkittel nicht - interessierte ja auch gar nicht. Sie
wollte Blut, oder in diesem Fall einfach ... Scheiße sehen. Das brauchte sie als
Interventionsgrund. Denn hier tobt ein Krieg. Was in der Politik des Landes recht, ist im
Alltag nur billig. Die sich durchsetzenden Standards des menschlichen Miteinander im
deutschen 51. Bundesstaat der USA gelten erst recht für tierisches Mitleben.
Und so war es kaum eine Frage der Zeit, daß die Jungmütter - als natürliche Feinde des
Hundes - Verstärkung auch aus dem radikal-militanten Lager stirnbeknoteter Kopftüchler
und der Bibliothekare bekamen. Hier wurde nicht lange gefackelt. Im Kampf gegen den
internationalen Hundeterrorismus durfte der Feind auch gerne mit an Wegesrändern
eingesetzten Hausmacher-Fleischbällchen mit eingebackenen Rasierklingen befriedet werden.
Frau Blümchenkittel machte - für diesmal enttäuscht - das Fenster zu, vermutlich um
sich ein Glas Domestos zu genehmigen. Und wir gingen, einem auf dem Gehsteig zerschlagenen
Flachmann ausweichend, unserer Wege.
So etwas deprimiert.
Schreit geradezu nach Kompensation.
Glücklicherweise gibt es den "HaStaLaViStA", den "Hannover-Stammtisch
gegen landesweite, viese Stigmatisierung Anderer" (bei dessen diesmaliger
Namensgebung zwar kein Duden, dafür aber reichlich Veltliner
bereit stand).
Und dieser öffnete mir auch diesmal seine gnädigen Pforten, um mir Asyl vor der Welt zu
gewähren.
Als Petrus stand Volker "Chef" Borst vor dem Tor. Die strenge Gesichtskontrolle
passierten vor mir Maja Wallner, Michael Bloch, Gerrit Teunis, Martin Zemke und Maren
Bürgel. Ina Borst war schon drin. (Das war ja einfach.)
Unser : "Wohlan, Chef, lasse die Tröstungen beginnen", ließ sich dieser nicht
wiederholen, warf uns jeweils eine gefüllte Flöte feinperligen, lachsfarbenen
"Bouvet Ladubay Tresor Rose" zu und machte sich an den letzten Schliff für
seine Pastinaken-Sahne-Suppe. Der Tresor gab uns derweil mit seiner Nase, in der nervös
mal rosa Grapefruit, mal Boysenbeere erschnüffelt wurde und seiner feinen Citrus- und
Beerenfrucht eine Frische wieder, die wir längst draußen verloren glaubten.
Und das Süppchen bewies wieder einmal, daß Bodenständigkeit - und diese nun kann man
Pastinaken allein schon ihrer Herkunft wegen nun beileibe nicht absprechen - kein Grund
für Erdenschwere ist. Dieses Erdgemüseprodukt zog einen richtig hoch.
Dann kam der Uralt-Spaß: Chef Borst belauerte seine Gäste beim Beschnüffeln eines 99er
Doosberg "Erstes Gewächs", darauf wartend, daß ein Trottel vielleicht von
"verstecktem Kork" oder Ähnlichem anfangen würde. Klar nämlich, daß der von
Querbach war. Stilvoll mit "stainless cap" versehen. Und das meine ich so, wie
ich es sage. Die Rede aber war "nur" von einem Frucht-Mineral-Komplex. Von
schöner Mundfülle, guter Stuktur, einer edlen Citrusfrucht mit Mineraltouch ebenso. Auch
allerdings von einer kleinen Senke gegen Ende des Mundes. Zirkulieren aber wollte der dann
doch noch eine ganze Weile.
Optisch zog sogleich beim Eintreffen am Tisch eine Lachs-Zander-Terrine des Chefs,
drapiert auf Salat mit leichtem Balsamikodressing, das Interesse der Asylsuchenden auf
sich. Und deren Geschmacks- und Geruchsnerven sprachen zu Kumpel Sehnerv: was dir
gefällt, soll auch uns gefallen, denn von einem Fleische sind wir - so will es der Herr.
Der Herr Borst.
Und siehe, diese hatten Recht.
Denn sogleich nach Eintritt der Fischspeisung in die gierigen Schlunde sollte der Sehnerv
den Jubel der Vielen hören. Vom 97er Riesling hatte Julien Meyer auch einen Vendage
Tardive gemacht. Und das war ihm sehr wohl gelungen, wie wir sogleich feststellen durften.
Nach einer blumig-fruchtigen Nase, die auch etwas Botrytis freigab, wurde dem Mund ein
aprikosenfruchtiger Wein feiner Reife, in der alle Komponenten gut vermählt waren,
präsentiert. Muskelspielender kam da eine Eugen Müller Forster Jesuitengarten
Beerenauslese von 98 daher. Die Nase beamte einen sogleich vor einen gewachsten Holztisch
Tisch mit einem Honig- und einem Aprikosenkonfitüretöpfchen darauf, in einen
kerzenbeleuchteten Raum, in dem der Kamin Tags zuvor angezündet war. Wer sagt, daß
Reisen ohne Bewegung nicht möglich ist? Fett war der Wein dann im Mund, doch mit gutem
Säurerückgrat. Dichte Frucht, fast cremig, doch schönes Spiel. Etwas Botrytiston im
Abgang.
Hierzu bekamen wir - wer hat es nicht schon erraten - des Chefs Gänse-Stopfleberterrine
mit Feldsalat. Wenngleich ich etwas sagen wollte, nach dem ersten Bissen davon, es kam
nichts heraus. Zu sehr war ich damit beschäftigt, mich dem Geschmack als würdig zu
erweisen. Ein schwieriges Unterfangen, das mich an einen meiner Lehrer aus Vorzeiten
erinnerte, der uns einmal mitteilte, er habe Chaplins "Der große Diktator" nach
etwa einem Drittel Laufzeit im Fernsehen ausgemacht, da er sich Chaplins Genie nicht mehr
ebenbürtig fühlte. Ich Simpel jedenfalls stellte das Essen nicht ein. Und die Stille um
mich herum ließ mich auch nichts anderes von den Mitasylanten annehmen. Das dann in das
Schweigen der Lämmer geworfene Hirtenwort Gerrits: "Ihr Gänse habt nicht umsonst
gelitten." wurde in einem Eilkonzil als authentische Eingabe kanonisiert.
"Oh wie ungerecht", hörte man den Bundes-Merz im Dezember gegen das Leben -
oder besser: eine bestimmte Lebensform - auftrotzen; doch hier ging es um Politik, und wer
erwartet da schon etwas anderes. Wieviel mehr also hatte an jenem Tag des Asyls jemand
ganz anderes das Recht, Gerechtigkeit einzufordern - und sie dennoch nicht zu bekommen.
Der 01er Riesling Spätlese trocken "Domwein" von Brenneis-Koch nämlich. Als
Kalibrierwein an diese Stelle gestellt, konnte ihm Gerechtigkeit nicht widerfahren.
Dennoch war er mehr als nur standhaft; durchsetzungsfähig, präsent und mit feiner Frucht
zeigte er uns David-Qualitäten gegen die vorausgegangenen Gänse-Goliaths.
Wie und wann er das gemacht hat, wage ich nicht zu vermuten. Ich hätte schwören können,
ihn die meiste Zeit gesehen zu haben, und dennoch ließ Chef Borst dann mal eben eine dem
Ofen entnommene, äußerst aromatische Makrele auf weißen Bohnen mit einer Rotweinsoße
aus dem Handgelenk vor die Sitzenden gleiten. Ein Domaine de Cascavel "Les
Amidyves" von 2000 sollte sie begleiten. Der Urlaubswein des Chefs. Und so verhielt
er sich auch: entspannend und ausgleichend. Mit Sauerkirschen und Pflaumen in der Nase und
auch sonst fruchtbetont, mit feinem Holzhintergrund und sehr moderatem Tannin kooperierte
er ohne Murren mit dem bohnengebettetem Meerestier.
Dann ging es in die Geschichte. Ein mittelalterlicher "Absenztäler Mischsatz"
aus dem Oberndorfer Beutelstein der Hahnmühle, Riesling und Traminer Spätlese von 99,
ließ halbtrocken mit sich spielen. Ein Riesling-Traminer-Dialog mit einem vielleicht ein
ganz wenig vorlauten Traminer. Die dezente Restsüße des harmonischen Stoffs machte ihn
zu einem rechten Schlonzer.
Und stimmte auf den nachfolgenden 01er Morio-Muskat Spätlese aus der Mußbacher Eselshaut
von Völcker ein. Ein restsüßer Wein, der sich bei aller Cremigkeit als Vertreter der
leichteren Art erwies. Traubig, etwas Weingummi, Muskat und Rose. Und nicht sehr lang.
Die goldgelbe 90er Huxelreben-Auslese vom Rheinhessen-Keller erinnerte zunächst mit dem
leichten Diesel-Ton in der Nase an den Dauerbrenner Steuererhöhungen im Energiebereich,
zeigte sich dann aber - mit einer lebhaften "Holla"-Säure - absolut klopffrei
im Mund. Trotz einer kleinen Bonbon-Süße war der Hesse würzig mit Honignoten und lecker
mit reifer Birne und verhielt sich absolut xenophil gegen das Tandoori-Huhn des Chefs.
Ein echter Bringer, diese Art Federvieh! Aber in der Zubereitung doch ein wenig aufwendig.
Genau weiß ich es natürlich nicht, aber wenn ich Rückschlüsse aus der
Tellerpräsentation ziehen darf, werden zuerst Riesengarnelen geputzt, gegart und
möglichst gerade tiefgefroren. Dann lädt man die nunmehr frostigen Tierchen in eine
Schrotflinte Kaliber 12 und hält auf die ahnungslosen Hühner. Der kühle Charme der
Meeesbewohner beendet diese Phase des Rezepts. Allerdings muß derart getroffen werden,
daß in jeder Einzelportion des küchenfertig gemachten Huhns eine Garnelenpatrone steckt.
Dann so asiatische Gewürze drüber. Chinesische Pilze dabei, Tandoori-Paste ... und
irgendwie ist das dann bald fertig. Wenn es dann aber nicht absolut zart und saftig ist,
hast du es noch nicht kapiert.
Also: üben (oder sicherheitshalber doch bei Volker nachfragen ...)
Vina Tarapaca ex-Zavala, Isla de Maipo, Gran vino reservada, 98, stand auf dem Etikett.
Ein CabSauv, der sich pfeffrig und mit der geziemenden Johbeere und etwas grüner Paprika,
dem Vanilleton und der dezenten Rauchigkeit plus einer kleinen Röstnote ganz schön in
der Nase anbot. Aromatisch war der auch im Mund, zeigte angenehmes Tannin und schöne
Frucht. Allerdings war da ein Bitterton im Abgang, der keinen Gegenspieler fand. Das war
für den einen Kaffeepulver pur, für den anderen "irgendwie Chinin", was nun
nichts mit einem Gebiet an der Loire zu tun hatte.
Warm. So wollte ein 95er Dom.des Pesquier von Boutiere aus dem Gigondas empfangen werden.
Und so präsentierte er sich auch im Charakter. Der war allerdings auch schon einen Tag
geöffnet. Was der Nase mit der Orangennote, den Beeren und der Erdbeerkonfitüre samt
hintergründiger Würze nicht viel geschadet haben kann. Auch im Mund begegnete uns
Ähnliches. Abschließend aber sagten wir ihm, er sei ein ordentlicher Kumpel.
Und schauten uns dessen Compagnon von der Dom. Raspail-Ay aus dem selben Jahr an.
Warmfruchtig auch der in der Nase. Nuancierter aber, und komplexer. Kakao, Kirsche,
eingekochtes Obst, etwas schmeichlerisch, aber selbstbewußt. Prall im Mund, mit
ordentlicher Fruchtsüße. Mundfüllend, tolle Frucht, schönes Tannin. Volltönende
Harmonie. Anziehen. Ausziehend, denn der machte warm, nicht nur ums Herz.
Etwas von einem Weckruf hatte der Nachfolger. Ein Cht. Cabrieres, Cht9dP von 99. Frucht
auch hier in der Nase, einen (aber wirklich ganz) dezent milchigen Ton dabei. Vitale
Frucht, jugendliche Kraft und eine schöne Röstnote im schönen Nachhall.
Der sollte das Rinderfilet im Ochsenschwanz a la Chef Borst - auf einer Sauce aus dem
Ochsenschwanzfond, gebunden mit Gänsestopfleber, an Sellerie-Pürree - nun begleiten.
Andacht, lieber Freund!
Anders läßt sich dieses auf den Punkt gegarte Gericht mit seiner Spannung aus
Rustikalität und Finesse nicht kommentieren. Und dann doch noch einen Wein dazugeschoben!
Der Chef hatte noch einen 2000er Pegau im Winkel stehen - mal zum Antesten. Über den
wurde hier ja nun schon einiges geschrieben. So seien denn hier nur kurz aber bestimmt von
unserer Seite die Passagen abgenickt, die bereits von schöner Frucht, Harmonie,
animierender Vitalität, jugendlicher Zugänglichkeit, Differenz und Vielschichtigkeit
sprachen.
Ein Parfait von Glenfarclas "Cask Strenght" mit Apfel-Rosinen-Kompott und
karamelisierten Nüssen. So etwas hatte auch ich zuvor nie gesehen, geschweige denn
gegessen. Mußte aber sein - und ich bereue nichts! Eine genüßliche Freude, ähnlich
der, die einen befällt, wenn man vom 10.000-Teile Puzzle das letzte Teil einpasst. Was
soll ich mehr dazu sagen. Das war halt noch das fehlende Teil.
Danach noch einen Sauternes, Doisy-Vedrines von 89, der noch recht jung war und die Nase
mit Honig, Lanolin, Kräutern und diesem Nagellackton (du weißt schon) frei Haus
belieferte. Fett, dicht, cremig, süß mit spielender Säure und Tönen von Salbei und
Honig.
Nun, das nenne ich Asyl.
Da fällt das Abschiednehmen nicht nur schwer, weil die Physis einfach nicht mehr die
volle Bewegungsfähigkeit hat. Aber es sind mitnichten nur die Kalorien, die uns Asylanten
hier stärkten. Denn ich war wieder bereit für eine neue Runde gegen Frau Knotentuch und
ihre Domestos-Allianz.
HaStaLaViStA!
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