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Der Friseur, der niemals sprach

Als ich vier war, nahm meine Mutter mich zum ersten Mal mit zum Friseursalon Gruber.
"Für die Kleine einmal zusehen", sagte sie zu der netten jungen Dame, die uns lächelnd zu unseren Plätzen führte, mir ein Kindermalbuch mit Stiften in die Hand drückte und sich dann wieder an den Empfang setzte.
Ich kletterte gerade auf den viel zu hohen, wackeligen Drehstuhl, als er hinter meiner Mutter auftauchte. Ich beobachtete, wie sie seinen Blick im Spiegel einfing und ihm zunickte. Er legte ihr mit Schwung das Frisiertuch um die Schultern und drückte sanft ihren Kopf in die Waschschale. Dann begann er sein wortloses Ballett, das ich mit offenem Mund und glänzenden Augen verfolgte. Er bewegte sich leichtfüßig zwischen den Stühlen, tupfte hier und zupfte dort, schnippelte sorgfältig herunter, was zu lang gewachsen war, und rollte die Strähnen um die Wickler. Immer wieder sah er in den Spiegel, als wolle er meiner Mutter jeden Wunsch von den Augen ablesen.
Am Ende rückte er die Trockenhaube zurecht, schaute zur Tür, knippste mit den Fingern und hob den Zeigefinger. Dann lächelte er jemand zu, den ich nicht sehen konnte, verneigte sich vor meiner Mutter, strich mir den Pony aus der Stirn und ging hinüber zur nächsten Kundin, um eine neue Choreographie zu tanzen.
Ich starrte ihm nach, aber plötzlich schob sich die Empfangsdame mit einer Tasse dampfenden Kaffee zwischen uns. Sie stellte die Tasse neben meiner Mutter ab und fragte höflich: "Milch? Zucker?"
"Danke, ich nehme ihn schwarz", antwortete meine Mutter und griff nach den Zeitschriften, die die junge Dame ihr hinhielt.
Ich kletterte vom Stuhl und schmiegte mich an meine Mutter.
"Mama?"
"Ja, Mäuschen?"
"Warum sagt der Mann nichts?"
Sie ließ die Zeitschrift in den Schoß sinken und sah mich überrascht an. "Ich weiß nicht." Nachdenklich drehte sie eine meiner Locken zwischen den Fingern.
"Eigentlich ist es auch nicht wichtig. Es ist schön, wenn man mal schweigen kann und auch nicht immer zuhören muss."
"Warum redet die Frau da drüben denn dann so viel?"
Meine Mutter lachte laut auf und drückte mir schnell die Hand auf den Mund.
"Setz Dich wieder hin. Es dauert jetzt nicht mehr lange."
Ich habe meine Mutter danach noch oft begleitet und den stummen Tanz bewundert. Der Salon war immer gut besucht und die Leute in unserer kleinen Stadt liebten "ihren" Friseur heiß und innig. Aber niemand wusste etwas über ihn: woher er gekommen war, wo er lebte und ob er verheiratet war. Oder warum er nie ein Wort mit seinen Kunden sprach.
Später bin ich auch seine Kundin geworden, und es war ein Genuss, still da zu sitzen und nur das leise Schnippschnapp der Schere und das Summen des Föns zu hören. Die Trockenhauben waren irgendwann zwischendurch ausrangiert und die Inneneinrichtung behutsam den Zeiten angepasst worden, aber mein Friseur veränderte sich nicht. Dennoch blieb auch für ihn die Zeit nicht stehen.
Als ich heute vormittag mit meiner kleinen Tochter zu ihm ging, hing das Schild an der Tür. Ich hatte es zwar schon erwartet, aber es war doch ein Schock, als ich diese Eröffnung so plötzlich vor Augen hatte.
Ich öffnete die Tür und schob meine Tochter sanft über die Schwelle. Dort stand er: klein und zierlich, ein wenig gebeugt. Das geschmeidige Tänzeln zwischen den Stühlen war ihm in der letzten Zeit sichtlich schwer gefallen, und auch jetzt stützte er sich mit einer Hand auf den Tresen. Er winkte uns zu sich und drückte mir ein Glas Sekt in die Hand. Dann sah er meine Tochter an, strich ihr den Pony aus der Stirn, legte seine rechte Hand auf unsere ineinander verschränkten Finger und drückte sie. Und zum ersten Mal sprach er.
"D-d-danke für Ihre T-t-treue." Er errötete und schlug die Augen nieder.
"Meine F-f-frau wartet hinten mit d-d-dem Büffet."
Einen Moment lang starrte ich ihn an. Dann stellte ich das Glas ab, drückte seine Hand und antwortete:
"Danke, Herr Gruber. Für alles."

© Susanne Schnitzler 2002
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