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KAFKA

Kapitulation der Ratio.
Geworfensein in die Ausweglosigkeit.
Grundsätzliche Akzeptanz der Resignation des Selbst als finaler Ausweg vor dem Windmühlenkampf gegen die Fremdbestimmung. Sätze, die dir zu Kafka einfallen könnten.
Wenn du gefragt werden würdest.
Aber erstens fragt einen heutzutage sowieso niemand ernsthaft nach persönlichen Standpunkten, Ansichten, Auffassungen - wohl meinend, man habe sich dem medialen "friendly fire" ergeben und sich der allgemeinen Weltsicht der "AOL Time Warner-Company" in der einen oder anderen Lesart hingegeben wie Verona Feldbusch dem allumfassenden Blubb - und zweitens ... wer liest denn heute mehr als die zwei Textlinien eines durchschnittlichen Chat-Beitrags.
Ah geh!, sagst du: allerorten wird diskutiert und den Franz liest ja bloß keiner, weil die Welt halt eh schon zuviel "kafka" ist.
Schon recht. Aber ... Diskussionrunden die mehr wären, als (mit sehr viel Glück) ein bemühtes Nachspielen der Christiansen-Show vom Vorabend oder (mit etwas Pech) der "Vera am Mittag" von vor ein paar Stunden, die mußt du nun aber wirklich suchen.
Aber im zweiten Punkt liegst du richtig. Die Welt ist "kafka" - derart umfassend, daß es ein verzeihlicher Glaube wäre, diese fünf Buchstaben als eines dieser mittlerweile regelmäßig auftauchenden Seuchenakronyme a la SARS zu deuten.
KAFKA: "Kritischer Abbruch der Fähigkeiten zur konkretisierenden Authentizität" oder "Kapitulation Aller Fertigkeiten Kohärenter Artikulation" ... Dem Schoß der Spaßgesellschaft entspringen Monstren, KAFKA hat sich die seinen mannigfaltig geholt. Es beweist sich täglich.
Nein, bitte, das geht mal nicht gegen Deutschlands "eisige Lady" (es ist nicht meine Art, Leute, die am Boden sind, zu treten). Was der hohen Politik recht, ist dem Alltag billig: versuche nur mal, sagen wir, technische Unterstützung für ein Problem mit einem Computerprogramm zu bekommen.
Hast du dich durch die Liste der FAQs auf der Internetseite "Service und Unterstützung" der entsprechenden Firma gearbeitet, auf dem dein Problem (wer hätte das gedacht) nicht verzeichnet war, und schließlich ein ellenlanges Formular mit Fragen - von sich nicht unmittelbar erschließender Relevanz aber für den Vorgang unverzichtbarer Natur - wie der nach deinem Berufsstand, deinem Einkommen oder der Häufigkeit deines Kreditkarteneinsatzes im letzten Quartal - ausgefüllt, so heißt es dann ... warten.
Lange warten.
Sehr lange.
Und kommt dann sechs Wochen nach Abgang deiner dringenden Bitte um Hilfe die lang ersehnte Mail, so wird dir für das Vertrauen in die Company gedankt, aber mit Bedauern darauf verwiesen, daß du unterlassen hast, das genaue Fertigungsdatum des Coprezessors deines Rechners anzugeben, was eine derzeitige Bearbeitung des Problems leider verunmöglicht; du mögest also doch bitte erneut ...
Was du auch (schweren Herzens, aber doch) tust.
Diesmal kommt die Mail schon nach fünf Wochen.
Mit dem Bescheid, doch bitte keine allgemeinen Fragen per eMail zu stellen, da die eingehenden Mails nicht überwacht und lediglich maschinell ausgewertet würden; der Servicecomputer sei aber in der Lage, bei Angabe problemrelevanter Daten in vielen Fällen eine Lösung zu finden, man warte also in schierer Vorfreude auf deine neuformulierte Eingabe ...
Empört schwingst du den Telefonhörer und gibst die mit 1,89 Euro pro Minute abzurechnende Nummer des Informationszentrums der Company ein.
Die tirilierende weibliche Computerstimme heißt dich im Informationszentrum herzlichst Willkommen und verweist sogleich auf die neu eingerichtete Serviceseite im Internet. Nachdem die Netzadresse zweimal wiederholt und die erste Minute um ist, bekommst du die Frage gestellt, ob du gewerblicher Großkunde seist und dich mit dem Druck auf die 1 deiner Telefontastatur offenbaren könntest oder als Angehöriger des industriellen Mittelstand die 2 betätigen würdest. Als Privatperson müsse man mit der 3 Vorlieb nehmen.
Schon beinahe beschämt suchst du schüchtern die 3 und gerätst darauf in die nervenzehrende Betönung mit hippen Houseklängen. Nach einiger Zeit, die du dir mit dem Nachrechnen der bisherigen Telefonkosten dieses Anrufs versüßst, erschallt die vertraute Stimme der Computin mit dem erneuten Verweis auf die Internetseite. Und einer Problemliste mit zugeordneten Nummern für die Telefondrücktasten und während du dich nicht recht entscheiden kannst, ob du nun "technische Unterstützung für ein Produkt" (die 7 auf der Tastatur) oder aber "Support bei Fehlermeldungen" (die 9) benötigst, plärrt dir die Warteschleife schon wieder in den Ohren.
Alles ist besser als das, denkst du und entscheidest dich in nackter Panik für die 7.
Dort sind, wie deine trällernde Bekannte aus Bits und Bites dir freimütig kundtut, alle Mitarbeiter des Informationszentrums bereits ozeanisch tief im Gespräch, die nächste freie Leitung aber würde für dich reserviert.
Derart reich mit dieser Aussicht beschenkt, nimmst du den schon fast persönlich zu nehmenden erneuten Hinweis auf die Internetseite nicht so schwer und hörst dir die Beschreibung von Neuentwicklungen der Company an, ohne die zu besitzen man sich offenbar nicht mehr trauen sollte, einen Rechner auch nur hochzufahren.
Nach knappen 10 Minuten HipHop-Dröhnung, in der du dir zähnemahlend vorstellst, wen du zuerst wie mit der nächsten freien Leitung erwürgen wirst, erfährst du schließlich vom inzwischen gesprächsbereiten Mitarbeiter des Informationszentrums, daß dein Problem bei ihm gar nicht gelistet sei und daher sehr wahrscheinlich DIE ANDEREN schuld sind; im Übrigen sei der oral-verbale Support für die Versionsnummer des bei dir laufenden Programms abgelegt worden, man möge in solchen Fällen also die neueingerichtete Internetseite unter www. ...
Informationssysteme haben ein einziges Ziel, so las ich in einer trendigen Untersuchung: die Erzeugung von Information beim menschlichen Benutzer. Daher würden bei nahezu allen modernen Informationseinrichtungen wissenschaftliche Ergebnisse aus dem Bereich der Informationsrezeption zum Tragen kommen und die Gestaltung der Informationssysteme nach Erkenntnissen der Psychologie über die Informationsaufnahme durch den Menschen erfolgen.
KAFKA im Endstadium.
Was sonst?
Und das alles ist nur EIN Beispiel.
Auszuhalten ist das unter normalen Bedingungen nicht.
Gottseidank gibt es immer wieder mal Menschen, deren Vorhandensein die Normalität außer Kraft setzt und unnormale Bedingungen schafft.
Wenn du dich mit solchen Leuten triffst, kann es beispielsweise vorkommen, daß deine müden Augen vom Gegenüber sogleich richtig diagnostiziert werden und dir umgehend die angezeigte Medizin gereicht wird:
ein Tonikum so recht zwischen Vitalität und Dignität, Weckruf und Balsam, Präsenz und Verspieltheit; so etwas, was dich durchrinnt und dabei flüsternd zu verstehen gibt, daß irgendwo vielleicht doch ein Sinn hinter Allem aufzuspüren ist, daß du einfach nur noch nicht so weit bist, dein Tag aber kommen wird.
Andres & Mugler heißen die Alchemisten hinter diesem Tropfen, einer wunderbar versekteten Chardonnay-Auxerrois-Cuvee.
Ausgesucht hatten diesen Sekt die beiden Christen, Doris und Joachim, und - ja, du hast es bereits geahnt - ein Bollwerk gegen das KAFKA ist natürlich der Hannover-Stammtisch des W+.
Wenn schon alles den Bach runter geht, so fließt es doch ins Meer und nur noch Meer hat dann Bestand - so dachten wir und trafen uns, um uns an Meeresgaben zu laben.
Eine Platte mit ... ach was sage ich ... eine ganze Menge an Platten mit Meeresfrüchten war angerichtet. Frisch am Morgen den Franzosen entrissen - was sind denn schon so ein paar Autokilometer, wenn es gilt, gegen KAFKA anzutreten.
Austern - tiefe und flache, Krebse, Meerschnecken, Crevetten, Langustinen, Muscheln ... was eben so dazugehört; du schaust auf den Tisch und bist nicht in Niedersachsen, sondern ganz klar in der Bretagne - du kannst ja deutlich das Meer rauschen hören.
Und wenn man da so sitzt und ißt und redet, um das innere Vokabelheft, das sich über die Zeit an den allgemeinen Wahnsinn anzupassen drohte, neu zu ordnen und zu befrieden, na, da trinkt man schon ein wenig. Oder ein wenig mehr.
Was soll man lange dem zu rasch geleerten Andres & Mugler hinterher weinen; mit dem Rücken zur Wand wartete bereits eine Reihe anderer, und zum Teil vortrefflicher Vertreter vergorenen Rebensafts.
Die hier alle aufzuzählen, wäre wahrlich zuviel des Guten.
Es waren Dutzende.
Ein paar jedoch darf ich nicht verschweigen, und wenn du siehst, daß es sich hier um Rotweine handelt und weißt, wie lange man so bei "Plateaux de fruit des mer" sitzen kann, bekommst du eine Ahnung von der Flaschenzahl an Weißweinen, die uns zuvor vitalisierten.
Zuerst ein Hinweis auf das Abschmecken eines bemerkenswerten Vertreters toskanischer Vinifizierkunst - wenngleich das nicht der erste Rote des Abends war:
von der La Fiorita (Montalcino) kreiste der 99er "Laurus" zuerst durch die Runde und dann in den Mündern.
Dieser Rosso de Montalcino aus Sangiovese und Merlot braucht sich wahrlich nicht hinter seinen RdM-Kollegen zu verstecken und tut dies auch gar nicht; präsent in der Nase mit Noten von reifer Kirsche, Holunder, Vanille, Kräutern sowie überreifen Datteln und der Ahnung des Geruchs von heißen Steinen im Hintergrund.
Im Mund ein eher fetter Typ mit würziger Art.
Wohlstrukturiert. Mit guter Dichte und Tiefe in der Architektur und schöner Länge.
Ein Rosso für gewisse Stunden.
Der persönliche Hit für mich aber waren die Burgunder der Christ's.
Zum Auftakt ein solider Später aus Baden, von Holger Koch.
Der ehemalige Kellermeister bei Franz Keller, der am Kaiserstuhl mittlerweile sein eigenes Gut führt, brachte einen 2001er Spätburgunder auf den Markt, den Knalli wohl als schönen "Saufwein" titulieren würde - wohlgemerkt: der Mann "säuft" bestimmt nichts schlechtes! Unkompliziert, direkt, mit unmittelbarer Frucht, schöner Mundfülle und langen Mundaromen.
Dann fand sich von der Cote de Beaune ein 2000er Santenay-Beauregard (Premier Cru) von Roger Belland der die Aufmerksamkeit der Nase durch sich hinter der Kirsche tummelnder Anklänge an Nelke, Kardamom, Pfeffer, sogar Printen auf sich zog.
Mittelgewichtig, aber aromatisch mit schöner Frucht von Krische und (gekochter) Erdbeere sowie Würze (Nelke, Zimt), Walnuß und Holz - es ließ sich gut über ihn plauschen. Ein guter Nachhall komplettierte den Beaune.
Schließlich waren da noch die Weine der Domaine Dominique Laurent.
Vinifiziert wird hier Traubengut aus Ankauf. Gekauft wird nur vom Besten und das Ergebnis ist überzeugend.
Wir befaßten uns mit einem 97er Mazis-Chambertin aus dem Hause, einem Wein mit einer komplexen aber kompakt wirkenden Nase, in deren dichter Textur sich immer wieder Neues fand. Rund, offen, zugänglich aber dennoch jugendlich. Schön zu trinken, gut zu lagern - was will man mehr.
Das Tannin ist hier gerade recht merklich, aber feinkörnig.
Guter Nachhall, schöne Länge.
Aus 98 stand ein Charmes Chambertin auf dem Tisch.
Auch dieser Wein verströmte Wohligkeiten in die Nase, süße Beeren und Walnüsse schienen zu dominieren.
Im Mund von schöner und großer Architektur, dabei offenherzig mit schöner Frucht, lebensfroh umspielt von der Säure und mit einem wunderbaren Nachhall ausgestattet.
Noch einen drauf aber setzte der 99er Beaune 1er Cru "Les Reversees"
Für mich der Wein des Abends.
In der Nase: nuanciert, vielschichtig, vielseitig. Ich war sicher, dies würde ein "Nasenwein" sein, einer, dessen Mundpräsentation nicht mit dem Odeur mithalten werden würde; subtile Frucht, geriebene Haselnuß, Datteln, Steinpilz (oder nicht doch Trüffel?), Marzipan, Rose ... was immer dir zu Burgunder einfallen würde, sicher würdest du hier Anklänge daran finden.
Nach dem zweiten Schluck spätestens aber war ich sicher: dieser Wein war ein "Mundwein".
Das Glas gerade abgesetzt, verlangte das gierige Maul nach.
Etwas fest war der vielleicht noch, dieser wohlbestellte Beaune mit schönem Säurespiel, aber was die Nase versprach, hielt der Mund allemal.
Lang tummelten sich noch Reminiszenzen an den Wein, die beständig zirkulierten.
Wer wollte da noch zum Zug und zurück in die Kernstadt?
Die Zeit auskosten hieß es, bis zur letzten Minute.
Was natürlich präzise Uhrwerke voraussetzt. Denn Züge warten nicht.
So auch der unsrige nicht, dem wir schweigend die Gleise hinterhersahen.
Zurück an den Tisch also, zu den Christ's, die uns erneut aufnahmen als kämen wir das erste Mal an diesem Tag.
Doch es war nur eine Gnadenfrist - denn irgendeinen Zug mußten wir schließlich erwischen.
Als er einlief schien mir, als hätte die elektronische Tafel am Bahnsteig für einen Augenblick KAFKA als Reiseziel eingeblendet.
Wehmütig stieg ich ein.

Andreas Bürgel

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