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Mrs Jeremiah Lattimers verfängliche Frage

Louisa Philippa Lattimer gehörte zu den freundlichen, umgänglichen Frauen, die ihren Mitmenschen ein echtes und aufrichtiges Interesse entgegenbringen. Als Gattin des Bürgermeisters stand sie natürlich im Licht der Öffentlichkeit, und so traf es sich, dass Mrs Jeremiah Lattimer ihre unbestrittenen persönlichen Talente gewinnbringend über den privaten Kreis hinaus entfalten konnte. Mr. Lattimer war entzückt über die Begeisterung, mit der die vornehmeren Familien seine Gattin aufnahmen, und sah in zufriedener Gewissheit seiner Wiederwahl entgegen.

In Anbetracht dieser harmonischen Verhältnisse mag man nun rückblickend sagen, Mrs Lattimer hätte an jenem verhängnisvollen Abend lieber mit einer warmen Milch und einem guten Buch daheim bleiben sollen, doch Pflichtgefühl und die Liebe zum Bürgermeister veranlassten die gütige Dame, sich trotz der leichten Erkältung den Strapazen eines Wohltätigkeitsballes auszusetzen. Schließlich handelte es sich um das Hauptereignis der Saison, als dessen Schirmherr der Bürgermeister persönlich amtierte und zu dem zwei illustre Gäste geladen waren, um die sich Mrs Lattimer einfach persönlich kümmern musste. Die einzigen Überlebenden einer lange verschollenen Arktisexpedition traf man nun einmal nicht en passant, und Louisa Lattimer durfte bei einer so wichtigen Begegnung einfach nicht fehlen.

Es schien Louisa, als sei buchstäblich die ganze Stadt im Rathaussaal versammelt, und um so mehr genoss sie es, dass sie dank ihrer gesellschaftlichen Position neben Mr. Lattimer stehen und dem Bericht der Herren Conroy und Peters aus nächster Nähe lauschen konnte. Die feine Gesellschaft wurde durch die wohlgewählten Worte Mr. Conroys in eine fremde Welt versetzt, und ein vielstimmiger Seufzer erklang, als der wackere Mensch seine Erzählung mit den Worten beendete:

"... zog die ganze Mannschaft hinaus in die weiße Wüste. Und dann waren die Vorräte gänzlich unerwartet binnen Wochenfrist aufgebraucht. Hätten wir zu diesem Zeitpunkt schon gewusst oder nur geahnt, dass wir noch monatelang durch das Eis irren würden – nun, ich weiß nicht, ob nicht mancher von uns den Freitod vorgezogen hätte."

Hätte Mrs Lattimer Mr. Conroy die ihm gebührende Aufmerksamkeit und Konzentration geschenkt, so hätte ihr gesunder Menschenverstand ihr wohl geraten, das Gesagte als erlaubte Übertreibung zu akzeptieren. Da sie aber nicht bei der Sache gewesen und zudem von einem leichten Kopfschmerz, der aus der Erkältung resultieren mochte, geplagt war, reagierte sie auf die Äußerung unbesonnen mit der Frage: "Aber was haben Sie denn die ganze Zeit über gegessen?"

Mr. Conroy wandte sich zu ihr um und lächelte gepresst. "Nun, Madam, wir schmolzen Eis und ernährten uns davon."

Diese Antwort wiederum irritierte Mr. Lattimer, und auf seine Feststellung, dass es sich bei dem geschmolzenen Eis doch eher um Getränk denn Essen gehandelt habe, räumte Mr. Conroy sichtlich unwillig ein: "Nun, es gab da noch die – Hunde."

Hätte man in der kleinen Runde, die Mr. Conroy und Mr. Peters umstand, eine Stecknadel behutsam auf den Boden gelegt, so wäre sie dort mit dem Donnerhall einer Kanonenkugel aufgeschlagen. Die Stille breitete sich aus, hin und wieder durch ein nervöses Lachen unterbrochen, bis ein älteres und besonneneres Ratsmitglied sich räusperte und sprach: "Nun, ja. Wir wollen nicht darüber richten. Schließlich muss man sich ja ernähren und im Zweifel eben den Umständen entsprechen, nicht wahr." Die Damen nickten und fächelten sich energisch Kühlung zu, die Herren rückten entschlossen die Revers ihrer eleganten Jacken zurecht, und man hätte nun die unverbindliche Konversation wieder aufnehmen können, ohne das gefährliche Thema noch einmal zu streifen.

Doch allzu offensichtlich und mit zu viel Vergnügen beherrschte der unheilbringende Fürst die kleine Szene. Hat das kleine Teufelchen der Logik erst einmal sein Terrain erobert, so wird es dieses nicht ohne bitterlichen Kampf wieder aufgeben. Und von eben diesem Teufelchen mochte nun unsere gute Mrs Lattimer getrieben sein, als sie sich wieder an Mr. Conroy wandte und in aller Unschuld fragte: "Aber, lieber Mr. Conroy, woher hatten Sie denn die Hunde? Ich dachte, Sie wären auf einem Frachter gefahren und hätten nie geplant, diesen zu verlassen? Ja, durften Sie denn Ihre Haustiere mit an Bord nehmen?"

Später erinnerte Mrs Lattimer sich nur noch daran, dass der Bürgermeister sie hart am Arm gepackt und vor sich her aus dem Saal geschoben hatte. Der Aufruhr, den sie in ihrer Unschuld gar nicht mit ihrer unbedachten Frage in Verbindung brachte, hatte ihr zartes Gemüt so erschüttert, dass ihr Gatte auf Empfehlung des Hausarztes und des Stadtrates ihren Haushalt auflöste und mit Mrs Lattimer und dem gemeinsamen Vermögen fortzog, um an einem fernen Ort Ruhe zu finden.

© Susanne Schnitzler 2002
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