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Streckenposten

Dieser Tag klebte an mir wie Rose d'Anjou am Gaumen. Keine Chance, ihn einfach loszuwerden. Von wegen carpe diem. Das ist heute sowieso höchstens eine Name für eine Werbeagentur oder einen Kaffeeröster. Ich blieb stehen, sah mir die Auslagen an. Das Schaufenster vom Koffeeindealer Tchibo strahlte mit den angebotenen Funkuhren, die gerade unisono auf die nächste Minute vorrückten, beklemmende Perfektion aus. Alles um mich herum wirkte präzise aufeinander eingespielt. Dem Plan folgend:
Der Bankmensch, der in einer einzigen fließenden Bewegung die Münzen auf den Bäckertresen legt und seine Brötchentüte von demselben zieht.(Liest der wirklich alle fünf Tageszeitungen, die er da mit sich herumträgt?) Die Verkäuferin aus Eigenbauhollywood, deren Haut die Farbe und Konsistenz naturbraunen Backpapiers angenommen hat. (Das wievielte Sonnenstudio hat jetzt eigentlich in dieser Straße eröffnet? Das fünfte?)
Der vom Ampelgelb aufgescheuchte schwarze BMW, der einem scheuen Tier gleich die Deckung im ferneren Dickicht des Straßenverkehrs sucht. (Die Sonnenbrille des Fahrers ist bestimmt mit dem Gesicht verwachsen, sonst hätte der sie an diesem Tag eines rein theoretischen Sommers doch abgenommen, oder?)
Der tägliche "Etwasdarstellenmüssenmarathon" hatte hier keine sichtbaren Wunden geschlagen. Nur potentielle Gewinner um mich herum. Haben sich selbst auf Sieg gesetzt.
Und sie taten gut daran. Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß. Also lauft, Leute. Fersengeld wartet nicht.
"An alle, die nur unser Geld wollen", schrie ein Werbeplakat einer Sparkasse von der gegenüberliegenden Hauswand. Ein Bürschlein in Nikes und Fishbones mit Kickboard stand andächtig davor.
Ein flüchtiger Bekannter, von seinem Hund begleitet, nahm auf mich Kurs.
"Woher nehmen Sie eigentlich die ganze Zeit, die Sie mit Ihrem Hund gehen?", wollte er ohne Umschweife wissen. Und mit einem skeptischen Blick auf seine Uhr: "Was sind Sie denn so von Berufs wegen?"
Mein "Musiker" veranlaßte ihn, den Kopf ein wenig in den Nacken zu schieben und seine Lippen vorzustülpen.
"Ah, wie meine Schwester, die trommelt auch im Spielmannszug. Nix für mich!", sagte er mit informierter Autorität. Ich widmete mich mit hängenden Schultern wieder den Auslagen.
Das "Süsse Kaufhaus" präsentierte sein Weinangebot. Zu meiner Überraschung war "Glaser Himmelstoß" vertreten; mit einem Rotling Kabinett (ein korrekter Wein übrigens, mit Anklängen an Himbeere und ein wenig Orange).
Mich zog es weiter. Besuchte einen alten Freund im neuen Haus. Welchen Wein er denn mal öffnen solle, fragte der.
"Trinkst Du eigentlich lieber Rotwein oder Weißwein?"
Ob er das Forum mitliest, dachte ich unwillkürlich. Als er ging um den Wein zu holen, strahlte mich sein etwa sechsjähriger Sohn an.
"Wir haben ein Bidet."
Ich nickte wissend.
"Da ist ne Fußbodenheizung drunter", deutete er auf den Bodenbelag vor uns.
"Aaah!", staunte ich.
"Und wir brauchen eigentlich auch keinen Kühlschrank mehr, wir haben jetzt nämlich eine ganze Kühlkammer."
"Jaha", lächelte ich fröhlich.
"Habt ihr das auch?", wollte der Knirps, den Kopf in Schräglage, von mir wissen.
"Nein", beschied ich ihn, "das haben wir nicht."
Sein Kopf rutschte ein wenig in den Nacken, die Lippen schoben sich etwas vor (wo hatte ich das doch gleich schon mal gesehen ...). Nach einem langen Blick aus zusammengekniffenen Augen meinte er:
"Bist du ein Loser?", und es klang eigentlich nicht wie eine Frage.
Und wieder hatte Wilde Recht: die Anwendung nackter Gewalt mag ja noch angehen, die der nackten Vernunft aber war ein unfairer Tiefschlag. Der Junge hatte einen Punch wie ehedem Muhammad Ali; er wird auch ein guter Läufer werden, da bin ich sicher.
Ich war froh, daß mein alter Freund sein neues Wohnzimmer mit der Flasche betrat, das enthob mich eventuell erwarteter Erklärungen.
Wir tranken dann einen sehr harmonischen 99er Kreydenweiss Pinot Blanc Kritt mit schönem Stoff, Spiel und vielfältigen Nuancen (den ich nebenbei bemerkt interessanter fand, als beispielsweise den hachettegerühmten - roten - 96er Arretxea Cuvee Haitza).
Wieder zuhause interessierten mich die globalen Ergebnisse des Darstellungsmarathons. Die Zeitung berichtete über unsere Spitzenläufer. Politiker. Sie waren schon fast durchs Ziel.
Schade nur, daß die Indianer Recht hatten: Fotografien stehlen in der Tat die Seele. Vielleicht nicht ein Klicken mal hier oder da fürs Familienalbum, bestimmt aber das Stroboskop der publizistischen Blitzlichter. Sich selbst als öffentlich zu empfinden, korrumpiert nur die Stärksten nicht. Daher liegen Idolatrie und Idiotie nicht nur sprachlich dicht beieinander.
Die neuen Nachrichten wollte ich genießen; ich weiß, sie lohnen fast immer und ich war so gerne Streckenposten bei diesem Marathon.
Ich wählte einen 98er Spätburgunder aus dem Barrique von Huber als Begleiter (schon wieder keine Entdeckung, ich weiß).
Der wollte mir gleich schmeicheln, mit seinem schönen Burgunderbouquet von Rose, Brombeer, Himbeer, etwas Zigarrenkiste, Clementinenschale (kam mir zumindest so vor) und vielleicht einer Spur Kakao im Hintergrund. Und war da nicht auch Mandelblüte, Walnußschale oder so? Ich sagte ihm, er solle sich entspannen; aber bei Schmeichlern mit Stil sind Worte verlorene Liebesmüh‘. Die machen eh was sie wollen. Insbesondere die, die – wie der - im vollen Saft stehen.
Ein Mittelgewicht, vielleicht, aber mit Muckis. Die warme, weiche Frucht kann nicht darüber hinweg täuschen, daß der Bursche den Körper eines durchtrainierten Tänzers hat. Komplexität des Ausdrucks. Harmonisch gebaut, fließende Bewegungen voller Stil und Präsenz.
Das Holz ist dezent, ganz leicht rauchig wirkend. Die feine Säure im Hintergrund stützt, spielt sich nicht auf. Lange Mundaromen. Ein schöner Abgang. Nach jedem Schlückchen; immer wieder.
(Bei der Gelegenheit: DEN wiederum fand ich interessanter als den - weißen - 99er Riesling trocken Spätlese Ihringer Winklerberg von Heger ... aber diese Vergleiche ... rot gegen weiß ... wollt ihr die wirklich?).
Wir lasen eine Weile Marathonergebnisse, dann grinste mich der Späte einvernehmlich aus dem Glas an. Zurückgelehnt warteten wir gelassen auf den nächsten Infarkt aus der Menge der Teilnehmer. Der kommt immer. Du kannst darauf warten.
Streckenposten können auch gemein sein.

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