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Vinophiler

 Das Gespräch war ermüdend. Die Distanz über den Tisch war einfach zu groß für das nachlassende Gehör der älteren Dame. Daher war ich zunächst dankbar für die Unterbrechung:
"Sie sind ein Vinophiler?", zwinkerte mir eine Frau Ende Vierzig zu. Ihr Zwinkern hatte die Faszination eines Knicks in einer Rauhfasertapete.
"Äääh ...", machte ich. Vinophiler. Das hatte noch niemand zu mir gesagt. Es klang irgendwie ... anrüchig.
"Sie SIND Weintrinker", legte sie – volkstümlicher - nach, und da ich vor einer Minute den unbekannten Weißen in einer Art INAO-Glas beschwenkt und beschnüffelt hatte, war Leugnen zwecklos. Ich grunzte also vage Zustimmung.
Die Frau mit dem Betongesicht sah mich inzwischen an, als hätte sie mich dabei erwischt, wie ich mich einem Stachelschwein sexuell nähern wollte. Ich dachte, ich wüßte, was nun kommen würde.
Weißt du, ich habe mich schon oft gefragt, was ich an mir habe, daß ich sie alle magisch anziehe: Kampfmütter mit ihrem Feldzug gegen die Mittagsruhe auf Spielplätzen in Wohngebieten; calvinistische Welterneuerer, Askesejunkies ohne Aussicht auf ein Methadon moderater Ausschweifung; radikale Homöopathen im Krieg gegen allgemeine Impfpflicht.
Clint Eastwood mußte sich anderen Herausforderungen stellen. Ich muß unbedingt an meinem Mienenspiel arbeiten (oder meinem Minenspiel).
Doch Betongesicht hatte tatsächlich etwas Neues auf Lager.
Ein Referat, ausgebrütet in Stunden radikaler Trostlosigkeit, ausprobiert bei Basaren der Keineahnungwer-Gemeinde, ausgefeilt bei Attacken auf schutzlose Pendler in öffentlichen Verkehrsmitteln.
Es kam mit Macht.
Anfangs recht altbacken: Alkoholismus privates wie soziales Hauptübel der Zeit und so.
Ich gab ein "Hrrggmphhhh" von mir, und dämmerte weg.
Doch dann, interessant, ihr Dolchstoß: so richtig verabscheuungswürdig nicht die Durchschnittsalkoholiker, bedauerlicher Problemsuff etc., da war sie noch irgendwie Samariter. Widerlich aber – na, was glaubst du ... richtig – die Vinophilen.
Ihre Hechtaugen glühten mittlerweile ekstatisch. Sie hatte Fahrt aufgenommen. Sprach von Kultus. Zeremonie. Ritus.
Von Gläserschreinen mit tausenderlei Trinkgefäßen, von Korkenhebern als Verschlußteilmonstranzen, von Dekantiergralen, von sakralen Prüfhandlungen, der Kabbala der Weinsprache – sie ließ nichts aus.
"Sektierertum, pseudoreligiöser Wahn, Realitätsverlust", meckerte sie schließlich. "Wein wird zum Orakel, das befragt, zur Offenbarung, der sich hingegeben, zum Fetisch, dem sich unterworfen wird. Zum Fetisch!"
"Zum Nähtisch?", krähte die schwerhörige Dame, die sich auch gern wieder ein wenig unterhalten hätte, und mittlerweile wollte ich ihr gerne - nur allzu gerne - das Feld überlassen, aber so leicht kam ich nicht davon.
Psycho-mentale Schäden, Blockade des wachen Blicks - der Weintrinker mache die Alkoholismushölle blind zum Weiheplatz. Spiele sich zum Sinnstifter in gänzlicher Sinnlosigkeit auf.
Und das Schlimmste sei: Vinophile missionierten. Ihr Kultus ziehe mittlerweile mehr Menschen in den Bann, als die Weltreligionen.
Ich bekam Sodbrennen. Der Wein in meinem Glas war nicht einmal gut. Was hatte ich getan?
Mal mit Zeugen Jehovas diskutiert? Genau so ein Fall war das hier.
"Und überhaupt", sagte sie plötzlich mit einem Kopfschütteln, "was zum Teufel ist eigentlich Tannin?" und sah mich erwartungsvoll an.

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