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Glut

Obwohl die Sonne an diesem Nachmittag schuftete wie verrückt, war die Aussicht genauso trostlos wie an allen übrigen 364 Tagen des Jahres. Ich sah über die Balkonbrüstung auf den Spielplatz, der in der Schlucht zwischen den Hochhäusern dörrte. Drei Birken mühten sich ab, der zerdellten Rutsche und dem mageren Klettergerüst Schatten zu spenden. Selin kauerte auf der Schaukel - die langen schwarzen Locken fielen ihr über die Schultern wie ein Schal - und starrte zum Sandkasten, in dem Zigarettenschachteln und Bierdosen wie Reste einer versunkenen Zivilisation staken. Eine ärmliche Brise ließ den Schweiß auf meiner Haut stocken; ich fühlte mich wie eingepökelt und wußte, daß ich mir den Versuch sparen konnte, für die Abendschule zu büffeln. Ich klebte einfach weiter an meinem Plastikgartenstuhl und beobachtete mal die Fliege, die in meiner Limonade brutzelte, mal Selin, die nichts tat. Irgendwann sah sie hoch und winkte:
"Huhu, Igor, hast du ein Eis - es is sooooo warm!"
"Vielleicht solltest du dir die Haare schneiden lassen, dann wär‘ Dir kühler. Warte, ich bring Dir eins raus."
Als ich den Hausflur betrat, spähte Selin durch die zerbrochene Scheibe der Eingangstür und rief:
"Meine Haare - du spinnst wohl!"
Ich war noch nicht ganz draußen, da hatte sie mir schon das Eis aus der Hand gerissen und lief zurück zur Schaukel. Und ich sah Arne auf der einzigen Bank des Spielplatzes. Ein Tritt in die Eier wäre mir willkommener gewesen.
Er hockte wie früher auf der Lehne, die Füße auf der Sitzfläche und sah mit dem schwarzen, im Nacken geknoteten Kopftuch noch immer aus wie ein Pirat. Barfuß hüpfte ich über Blasen, die der Asphalt warf und Sand, der meine Fußsohlen röstete - aber das war nicht der Grund, weshalb ich mich fühlte, als würde ich durchs Fegefeuer laufen.
Arne grinste, aber keiner von uns machte Anstalten zu unserem alten verwickelten Handschlag. Ich kletterte auf die Bank, als Arne neben sich auf die Lehne klopfte - aus alter Gewohnheit tat ich, was er verlangte.
"Hey, Igor, Mann - freust du dich nicht, mich wiederzusehen?"
War es Angst, die mich mit Abwehr reagieren ließ, obwohl ich mich dabei mies fühlte?
"Drei Jahre hast du dich nicht blicken lassen, Arne. Spuck aus, was du willst und dann laß mich in Ruhe."
"Was ich will - ich will die alte Truppe versammeln. Wurzeln undso, wir können uns ... ."
Selin tauchte neben der Bank auf:
"Igor, schubs mich an."
Arne fixierte einen Punkt über Selins Scheitel.
"Verpiß dich, Schneewittchen."
Er klang anders als früher, schwankend, beinah schüchtern. Trotzdem war ich erleichtert, daß Selin auf mein warnendes Kopfschütteln reagierte und zur Schaukel zurückkehrte. Sie war zwar erst sechs, aber sie ließ sich sonst nicht so leicht die Butter vom Brot nehmen.
"Was soll das Arne? Warum kommst du mit diesem "Ich-bring-die-Band-wieder-zusammen"- Scheiß? Denkst du wirklich, daß es die Clique noch gibt, daß wir Händchen halten und uns trösten?"
Arne fächelte sich Luft zu und deutete zu meinem Balkon hinüber.
"Heiß heute, können wir bei dir ein Bier trinken?
Ich schüttelte den Kopf.
"Dann hast du vielleicht 'ne Zigarette?"
"Ich rauche nicht mehr."
"Wow! Hab‘ gehört, du bist bei 'nem Projekt für die Kids, die von ihren Eltern nicht genug gefüttert werden. Überall dieselbe alte Kacke am Dampfen, aber du sorgst für frischen Wind."
"Ich koche da hin und wieder."
Arne nickte und rieb die Handflächen an seiner Jeans. Daß er seine Hände nicht stillhalten konnte, war auch neu an ihm.
"Samariter vom Plattenbau, Mann. Du hilfst eben gerne, das wußte ich schon immer!"
Ich wollte einfach nur, daß er wieder verschwand. Die Erinnerung hatte ich wie ein häßliches Foto in kleine Schnipsel zerteilt und wenn dann und wann einer auftauchte, zerpflückte ich ihn in noch kleinere Schnipsel. Ich brauchte niemanden, der sie wieder zusammenklebte. Wäre ich doch bloß bei geschlossenen Rollos im Haus geblieben wie jeder vernünftige Mensch bei der Hitze! Ich schaute hinüber. Jeder Riß in der Wand, jedes Bröckeln wurde von der Sonne ausgeleuchtet, es war als würde sich das Gebäude unter ihrer Kraft pellen. Ich meinte, ein Knistern und Prasseln zu hören wie in der Sommernacht vor drei Jahren. Wir waren vier Jungen und drei Mädchen zwischen fünfzehn und siebzehn, genervt von der Hitze und der Tatsache, daß wir unsere Ferien nicht an der Costa Brava oder wenigstens der Nordsee verbringen konnten. Eines Abends hatte Arne eine Abkühlung am Teich des kleinen Landschaftsschutzgebiets nahe der Schnellstraße vorgeschlagen. Wir grillten und badeten. Wir dröhnten uns mit Bier und Wodka zu. Wir schwankten auf unseren Rädern durch die Dunkelheit und fackelten einen ausgetrockneten alten Holzschuppen ab, den Arne am Rand einer Wiese entdeckte. Wir wußten nicht, daß in dem Schuppen ein Säufer seinen Vollrausch ausschlief: Arnes Vater. Am nächsten Tag war Arne verschwunden und wir anderen sahen uns kaum noch, nachdem die erste Panik vorbei war. In und um den Schuppen hatte Heu gelagert und die Polizei ging davon aus, daß Arnes Vater eine Zigarette oder eine Kerze angezündet hatte, bevor er weggetreten und nicht wieder aufgewacht war. Die Angst, mit der wir uns herumschlugen, war nicht die vor Entdeckung.
Arne prokelte an einem Holzspan und sagte:
"Wir müssen uns treffen!"
"Was erwartest du? Du hast uns allein gelassen, wir haben das nur zu gut verstanden und sind irgendwie klargekommen und jetzt ... ."
"Weißt du wieviele Leute auf der Beerdigung waren? Ich, der Pfarrer und die Sargträger. Nicht mal meine Mutter ist gekommen."
"Es tut mir leid - der ganze beschissene gräßliche Zufall, Du hast keine Ahnung, wie leid es mir tut, Arne. Aber ich kann es nicht ändern. Niemand von uns."
Das war eine schwache Entschuldigung. Nein es war überhaupt keine, weil es keine geben konnte.
"Du verstehst nicht, Igor. Der dämliche Wichser hat gekriegt, was er verdiente. Niemand hat auch nur einen Furz auf ihn gegeben!"
"Du solltest nicht so reden ... das bringt dich auch nicht weiter ... ."
Arne schaute von mir weg ins Leere und riß den Span aus der Bank.
"Du kapierst immer noch nicht: ich wußte es. Ich wußte, wohin er ging, wenn er nicht nachhause wollte, besoffen war oder einfach bloß schlechtgelaunt. Und ich wußte, daß er in dieser Nacht da sein würde."
Ich sprang von der Bank und ging zur Schaukel. So fest ich konnte umklammerte ich die glühenden Eisenstangen. Schweiß lief mir über Bauch und Rücken, meine Füße brannten, ich fröstelte.
Im Aufstehen sagte Arne:
"Wir sehen uns."
Früher wäre das ein Befehl gewesen. Heute klang es fast wie ein Flehen und ich wußte, daß ich Arne nicht wiedersehen würde. Er verließ den Spielplatz und drehte sich nicht mehr um. Auf der Rückseite seines T-Shirts stand in weißer Schrift: Time wounds all heels.
Selin fragte:
"Was wollte der?"
"Er will daß ... daß ich ihm helfe ... ."
"Ich kann den nicht leiden."
"Ich weiß, Selin, aber... ."
Selin schrie über den Spielplatz:
"Verpiß dich selber!"
Sie löste meine Hände von dem Gerüst und hielt sie fest.

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