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Keiner Fliege ...

"Dabei kann ich", sagte Leonard zu seiner Kaffeetasse, "keiner Fliege etwas zuleide tun." Er raffte die Mordwerkzeuge vom Tisch in eine Plastiktüte und fand sich grausam, aber er war entschlossen, zur Tat zu schreiten.
Seit seine Mutter vor einem halben Jahr gestorben war, hatte niemand mehr den Dachboden betreten und das Knarzen und Quietschen der lange nicht benutzten Treppe klang in Leonards Ohren wie Protestgeschrei. Er lauschte, zeigte dem Treppengeländer einen Vogel und stieg bedächtig nach oben. Mit einem herausfordernden Schubs stieß er die Tür auf und glaubte, die schmale Gestalt seiner Mutter zu sehen: sie fegte den Fußboden, hängte Wäsche auf, rangierte alten Krempel aus, verstaute neuen Krempel, doch im nächsten Augenblick war der Schemen zergangen. Nur Spinnweben, Staub und Frieden schwebten in dem dämmrigen Licht, in das unregelmäßig Sonnenfäden eingesponnen waren. Eine alte Kommode unter dem verschmierten Fenster und zwei wacklige Stühle vertrieben sich gemeinsam die Ewigkeit. Leonard runzelte die Stirn und zögerte an der Schwelle. Dies war nicht sein Terrain, er war ein Eindringling. Aber das nächtliche Getrippel und Genage über seinem Schlafzimmer trieb ihn noch in die Schlaflosigkeit; und als er heute Morgen in Frühstückslaune die Speisekammer betreten und Mäuseköttel gefunden hatte, war das Maß voll gewesen. Das hier war sein Haus, vom Keller bis zum Schornstein und er würde den ungebetenen Gästen den Garaus machen!
Er trat an die Kommode und schüttelte die Plastiktüte aus. Die Mausefallen purzelten auf das gesplitterte Holz und Leonard betrachtete sie eine Weile. Was, wenn er sich an dem garstigen Mechanismus die Finger klemmte? Seine Mutter hatte ihm immer eingetrichtert, auf seine Finger zu achten, die begabten, feinen, die auf den Saiten der Geige tänzelten. Sie selbst allerdings hätte nicht so lange gefackelt. Leonard gab sich einen Ruck, spickte die Fallen mit vorbereiteten Salamiwürfelchen und spannte sie, immer auf der Hut vor einem plötzliche Zubeißen. Dann verteilte er sie mit spitzen Fingern auf dem Dachboden und erst, nachdem er die letzte Falle ein Stück unter die Kommode geschoben hatte, atmete er wieder normal durch. Während er sich aufrichtete, verhakte sich seine Strickjacke an einem Knauf und er zerrte, bei dem Versuch sich zu befreien, die rechte Tür der Kommode auf. Er spähte hinein. Pappschachteln und Fotoalben. Wahllos griff er eines heraus, wischte ein paar Spinnwebfetzen vom Einband und setzte sich auf einen Stuhl, der unter seinem Gewicht wimmerte. Dabei hatte er doch schon abgenommen, seit seine Mutter nicht mehr für ihn kochte.
Leonard schlug das Album auf. Auf die erste Seite hatte seine Mutter mit grüner Tinte ein einziges Wort geschrieben - nein, kalligraphiert: Leonard. Die Schrift wirkte alt, spröde, eingesunken - wie seine Mutter in den letzten Monaten vor ihrem Tod. Leonard streichelte mit dem Finger über seinen Namen und blätterte weiter. Seite um Seite wendete er um, das einzige Geräusch kam von dem Seidenpapier, wenn er versuchte, es in die exakte Position zu legen, damit es keine Falten bekäme. Er sah sich selbst, immer wieder sich selbst: mit der Geige, beim ersten Schultag, in seiner Pfadfinderuniform, bei Familienfeiern, er überreichte Tante Anna einen Blumenstrauß, baute in den Ferien am Meer eine Sandburg. Es war die vollständige Dokumentation seiner Kindheit und sie bedeutete ihm nichts. Dieser Junge dort hatte für Leonard war eine Versteinerung der Vergangenheit. Leonard hatte keine Ahnung, wie sein bester Freund Armin heute aussah und es interessierte ihn nicht. Er überflog die Bilder, wie er eine vorbeirauschende Landschaft aus dem Zugfenster betrachtet hätte.
Doch dann stieß er auf ein Gesicht, das er nicht einordnen konnte. Das Foto zeigte eine Szene an einem Sommernachmittag im Garten hinter ihrem Haus. Leonard, ungefähr acht Jahre alt, lehnte im Vordergund an einer Eiche und winkte mit einem Federballschläger. Etwas weiter hinten erkannte er seinen Freund und ein Mädchen, das nicht in die Kamera sah, sondern Armin betrachtete. Leonard trommelte mit zwei Fingern auf dem Foto herum. Wer war das? Auf den restlichen Seiten tauchte das Mädchen nicht mehr auf. Es war albern, aber er mußte unbedingt herausfinden, wo dieses Mädchen so plötzlich hergekommen war. Er wußte nicht, wie lange er auf ihr Gesicht gestarrt hatte, als ihn ein doppeltes Klappen weckte.
Er schloß das Album, legte es auf den Boden neben dem Stuhl und zog ein Paar Einmalhandschuhe aus der Hosentasche. Unschlüssig rollte er sie zwischen seinen Handflächen.
Das Opfer mußte früher oder später entsorgt werden - also konnte er es auch gleich tun, obwohl ihn schauderte. Seine Mutter hätte ihn ausgelacht, aber nicht zu sehr, denn sie wußte, wie zartbesaitet ihr Sohn war. Immer und immer wieder hatte sie beteuert, daß ein so sensibler Mensch wie ihr Leonard eine ganz besondere Behandlung verdiente und stets hatte sie ihm alle unangenehmen Pflichten abgenommen.
Leonard zerrte die Gummihüllen über seine Hände und erhob sich. Auf Zehenspitzen schlich er zu dem Balken, hinter dem er die Falle versteckt hatte. Der Balken war rissig und rauh wie eine alte Baumrinde unter seiner Handfläche, als er sich abstützte und nach der Falle lugte. Sofort zuckte er zurück. Die Maus lag auf dem Rücken, die Falle über sich wie einen Sargdeckel, nur der Schwanz und die Pfoten ragten hervor. Von dort, wo der Kopf sich befinden mußte, kroch ein rotes Rinnsal über den Boden. Ausgerechnet ihm mußte das passieren! Sein Leben lang ekelte sich Leonard vor Blut. Die Maus war entweder besonders blöd oder besonders experimentierfreudig gewesen, hatte vielleicht versucht, die Wurst durch ein schlaues Manöver zu ergattern und nur erreicht, daß ihr der Mechanismus den Schädel einschlug, statt ihr das Genick zu brechen.
Leonard wagte noch einen Blick. Das Rinnsal vergrößerte sich zur Pfütze. Wie, um Himmels Willen, konnte ein so kleines Tier soviel Blut in sich haben?
Und da schnappte die Erinnerung zu wie die Mausefalle. Irina hatte das Mädchen geheißen, eine Russin, neuzugezogen in Armins Nachbarschaft, der sie an jenem Nachmittag mitbrachte, nachdem er Leonard tagelang von ihr vorgeschwärmt hatte.
Leonards Mutter war begeistert und wollte den Beginn einer neuen Freundschaft fotografisch verewigen. Später servierte sie selbstgemachtes Himbereis, auf das Leonard besonders stolz war. Irina schlang es hinunter, bekleckerte sich und lachte und Armin lachte mit und Leonard konnte sie nicht leiden. Dann forderte Irina ihn zu einem Federballmatch auf und schlug ihn zweimal hintereinander mühelos. Armin applaudierte. Leonard rannte zu Irina. Schrie:
"Du blöde russische Kuh, du störst nur, du gehörst nicht zu uns. Hau ab, hau ab!"
Er schubste sie. Sie fiel auf die Steine, die den Rasen säumten. Schlug sich die Lippe auf. Blutete schrecklich. Weinte nicht. Hielt sich die Hand über den Mund.
Leonards Mutter rannte über die Terrasse und nahm Irina und Armin mit ins Haus. Irina kam nie wieder zu Besuch, Leonard sah sie nicht mehr und weder seine Mutter noch Armin verloren je ein Wort über die Sache. Leonard hatte sie vergessen. Schließlich war er derjenige, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte! Was mochte seine Mutter Armin gesagt haben?
Leonard sah hinab auf die Lache und ihm wurde schwummerig.
"Ich muß", sagte er zu der Maus, "ich muß mich entschuldigen!"
Dann drehte er sich um und rannte zur Tür. Sicher würde er irgendeine Telefonnummer auftreiben können, vielleicht lebten Armins Eltern noch. Er würde ... er mußte Armin sagen ... auch Irina ... daß er ganz anders war. Hilfsbereit. Freundlich. Niemand, der Mäuse köpfte und Lippen aufschlug.
Er erreichte die Tür, riß sie auf und nahm die ersten drei Stufen im Sprung, traf die vierte nur mit einem halben Absatz, rutschte ab, verfehlte das Geländer. Die Treppe schoß unter ihm weg und er knallte mit dem Kopf auf den eisernen Schirmständer, den er nie benutzte. Halb lag er auf den Stufen, halb auf dem Flurboden. Ein rotes Rinnsal kroch unter seiner Stirn hervor über die schwarzweißen Fliesen.

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