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Siebenreich fährt U-Bahn

Natürlich war kein Platz mehr frei. Siebenreich stellte die Tasche, in der Badehose und Handtuch verstaut waren, zwischen seine Füße und packte den Haltegriff, als die U-Bahn anfuhr. Gutgelaunt summte er vor sich hin, denn er freute sich auf ein entspanntes Wettschwimmen mit seinem Ex-Kollegen Bettermann und ein oder zwei Bierchen danach. Neben ihm umklammerte ein schläfriger Endvierziger in dunklem Anzug eine Aktenmappe und dünstete einen langen Bürotag aus. Siebenreich dachte: "Nix gegen das Rentnerleben." Und: "Morgen könnte ich mal wieder ..."
Etwas zupfte an seinem Ärmel.
"Wollen Sie sich setzen?"
Vor ihm stand ein Junge mit Wollmütze, Walkman und einer viel zu weiten Hose, die einen erfolglosen Kampf gegen die Schwerkraft focht. Hätte Siebenreich ausreichend Zeit gehabt, hätte er sich erkundigt, was für eine Erfahrung es war, die Hosenbeine wie eine Bremsspur hinter sich herzuschleifen, aber der Junge beharrte:
"Bitte setzen Sie sich doch!", und wies auf einen Platz, von dem er gerade aufgestanden war. Siebenreich plumpste auf den Sitz und berührte dabei die Knie einer riesigen Frau, die böse knurrte. Vielleicht war sein Vorsitzer bloß aufgestanden, um von diesen Knien wegzukommen - aber warum hatte er nicht einem anderen Mitfahrer den Platz angeboten? Siebenreich starrte aus dem Fenster, durch das nichts zu sehen war. Es war passiert, zum ersten Mal. Man glaubte, er könne eine einfache U-Bahnfahrt nicht stehend durchhalten. Man glaubte, er sei zu gebrechlich. Zu alt. Siebenreichs Kopf pendelte schwach im Fahrtakt bis seine Haltestelle angekündigt wurde. Während er langsam die Treppe hinaufstieg, federte links und rechts die Menge an ihm vorbei. Oben erwartete ihn Bettermann.
"Tag Siebenreich. Pünktlich wie immer. Sag mal, ist etwas? Du siehst irgendwie ..."
"Alt aus?", zischte Siebenreich.
"Nein, wieso? Ich würde eher sagen: indigniert."
"Von wegen.", dachte Siebenreich, "geschwollenes Gequatsche." Und sagte:
"Gehen wir jetzt, oder was ?!"
Im Umkleideraum trödelte Siebenreich und unterzog beim Umziehen seine Extremitäten einer eingehenden Kontrolle. Er fragte:
"Hat dir schonmal jemand in der U-Bahn einen Platz angeboten?"
"Nicht, daß ich wüßte."
"Ha!", sagte Siebenreich düster. Natürlich, Bettermann war ja auch erst knapp sechzig, er dagegen ging schon stramm auf die Fünfundsechzig zu. "Da siehst du’s."
"Was seh‘ ich, Siebenreich?"
"Na, eben nichts: niemand steht für dich auf."
"Ist ja auch nicht weiter erstaunlich, ich fahre seltener U-Bahn als eine Maus Motorrad."
"Ha.", wiederholte Siebenreich und sah Bettermann zu jeder Jahreszeit in die Pedale treten.
"Wolltest du dir nicht ein neues Fahrrad zulegen, so ein ultraleichtes? Wenn du deins verkaufen möchtest,
ich ...."
Bettermann schüttelte den Kopf.
"Siebenreich, irgendwas stimmt nicht mit dir - willst du etwa so rausgehen?"
Siebenreich schaute an sich hinunter und errötete. Er hatte seine Badehose falsch herum an.
"Na bitte", dachte er, "prima, als hätte ich auch noch Alzheimer."
Er zog sich um, folgte seinem Freund ins Wasser und legte los. Die lahmen Brustschwimmer ließ er auf der Strecke; er kraulte bis seine Ohren dröhnten und vor seinen Augen grüngelbe Spiralen tanzten. Wasser geriet ihm in die Kehle, er rettete sich japsend und würgend an den Beckenrand. Er sah schon die Meldung im Lokalblättchen: Rentner erleidet Herzinfarkt. Der Fünfundsechzigjährige, der seine Kräfte offenbar überschätzte ... . Pah, natürlich würden sie auf seinem Alter herumreiten. Siebenreich bewegte träge seine schmerzenden Arme und sah hinüber zum Sprungbecken.
Der Zehn-Meter-Turm. Nichts für Tattergreise. Es war an der Zeit, Herausforderungen anzunehmen. Er erklomm die Leiter und setzte penibel erst den rechten, dann den linken Fuß auf das Sprungbrett. Mit geballten Fäusten arbeitete er sich an das Ende des Brettes vor und dachte:
"Bloß nicht hinuntersehen, sofort springen."
Er sah hinunter, sagte: "Ihhhhh!", geriet ins Taumeln, schwenkte die Arme, drehte eine einbeinige Pirouette inklusive Rumpfbeuge, meinte, Bettermann irgendetwas von "Blödmann" und "Höhenangst" brüllen zu hören und stürzte seitlich ab. Der Aufprall war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Siebenreich schoß durch wirbelndes Wasser, paddelte und strampelte und tauchte hustend wieder auf, dankbar, nicht das Bewußtsein verloren zu haben. Bettermann hockte am Beckenrand und fuchtelte mit den Händen..
"Was war das denn? Willst du deine Höhenangst mit Schocktherapie überwinden? Jedenfalls eine tolle Vorstellung, du solltest an der Volkshochschule Slapstickkurse geben."
"Jajaja!", sagte Siebenreich.
Bettermann boxte ihm auf die Schulter.
Später saßen Siebenreich und Bettermann im "Hradschin". Bettermann nahm einen langen Schluck frischgezapftes Pilsener Urquell und ein Gabel Tafelspitz mit Serviettenknödel, während Siebenreich mißtrauisch an einem Rotwein nippte und seinen Salat beäugte.
"Warum hast du Wein bestellt?", fragte Bettermann, "du weißt doch, daß der hier nichts taugt."
"Jajaja!", sagte Siebenreich.
"Meine Güte, du hast aber auch eine Laune."
Siebenreich blieb wortkarg. Einmal fragte er:
"Nimm mal an, du fährst U-Bahn: wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß dir jemand einen Platz überläßt?"
Bettermann beendete den Abend, indem er Siebenreich einen Vogel zeigte.
Siebenreich trottete zur Haltestelle und verspürte nicht die geringste Lust, U-Bahn zu fahren. Vor dem Fahrkartenautomaten überlegte er, wieviele Aasgeier darauf warten mochten, seine Tasche zu tragen oder ihn beim Aussteigen zu stützen. Er dachte: "Ich brauche einfach eine langfristige Strategie." Gerade wollte er den für seinen Zielort erforderlichen Nummerncode eintippen, als eine Stimme hinter ihm fragte:
"Kann ich Ihnen helfen?"
Siebenreich zuckte wie bei einer unsittlichen Berührung und drehte sich um. Vor ihm stand eine junge Frau in einem rasant geschnittenen Nadelstreifenkostüm. Sie lächelte, aber Siebenreich wußte genau, was sie dachte, nämlich daß diese alten Leute viel zu lahm und überhaupt völlige Techniktrottel seien. Na, die sollte mal sehen, mit welcher Geschwindigkeit er Zwiebeln hackte. Und wer installierte wohl in der Nachbarschaft die Computer und half bei Internetproblemen?
Er fühlte sich wie eine dieser Comicfiguren, denen schwarze Wolken aus dem Schädel quellen. Während er so vor sich hindampfte, bemerkte er, daß die Frau immer noch lächelte, aber mit Spitze ihres linken Schuhs hektisch auf den Boden schlug. Vielleicht war sie hilfsbereit, aber vor allem war sie in Eile. Siebenreich entspannte sich. Er hatte nicht mehr so viele Jahre vor sich, mit denen er protzen konnte, aber dafür hatte er Zeit und sie und Ihresgleichen hatten keine. Das war es! Er sah, wie sie ihm aufgrund seiner schlechten Ohren alles dreimal erklären mußten. Sah, wie er verzweifelt nach seiner Brille oder seinem Portemonnaie forschte und umständlich nach Kleingeld kramte. Wie er hier und da einen kleinen Schwächeanfall erlitt. Ah, er würde ihnen den Methusalem geben, der nach erschöpfender Hilfestellung gierte!
Siebenreich lächelte possierlich.
"Wenn Sie sich die Umstände machen wollen.", sagte er.

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