Krasis.jpg (2887 Byte)

Siebenreich in Rente

Um 13.58 Uhr an einem sonnigen Freitag im Juli sah Schrankenwärter Siebenreich aus dem Fenster auf vier wartende Autos und ein Fahrrad. Er trug schon seit Jahren keine Uniform mehr, tippte jedoch kurz an einen imaginären Mützenschirm und ließ die Schranke hochgehen. Kollege Bettermann klopfte ihm auf die Schulter.
"Schichtwechsel in die Freiheit, Kollege! Gratuliere, endlich hast Du’s geschafft. Ich darf gar nicht daran denken, wie lange es für mich noch dauert!"
"Ach, ich hab‘ nicht darauf gewartet. Und die paar Jahre ... !"
Siebenreich faltete ein letztes Mal sein fettiges Butterbrotpapier Kante auf Kante zu einem kleinen Päckchen und beförderte es mit einem Wurf in den Papierkorb, dann wischte er sich die rechte Hand an der Hose ab, bevor er sie Bettermann zum Schütteln reichte.
Um 14.06 schloß Siebenreich die Tür des Postens hinter sich und mit dem Schrankenwärterdasein ab.
Am nächsten Morgen erwachte er um 5.45 Uhr. Das Morgenlicht zwängte sich durch die Ritzen der Jalousie und stempelte einen verschwommenen Schattenkäfig an die Wand, der ihm früher nie aufgefallen war. Siebenreich dachte:
"Ich muß nicht aufwachen. Ich kann liegenbleiben. Ich bin frei."
Er wartete bis acht, dann warf er die Daunendecke zur Seite und schob sich mit schrecklichen Kopfschmerzen und zuckenden Kniegelenken auf die Bettkante.
Eine Woche lang stand Siebenreich jeden Morgen zur selben Zeit mit wehem Kopf auf. Er frühstückte, sah zu, wie der Honig in langen Fäden auf den Toast tropfte, las die Zeitung und wartete darauf, daß es Zeit wurde, für das Mittagessen zu sorgen. Nach dem Einkaufen hackte er akkurat Gemüse, briet Reis oder reduzierte einen Hühnerfonds, wusch und ab und wartete auf die Kaffeezeit. Er bügelte Hemden und sah den Wölkchen hinterher, die er aus seinem Staubtuch schüttelte, schaltete den PC ein, schrieb e-mails an seine Tochter. Er wartete auf das Abendessen und die Tagesschau. Um 23.00 Uhr ging er zu Bett.
In der zweiten Woche machte Siebenreich einen Spaziergang zum Schrankenposten. Ein BMW-Cabrio wartete auf die Durchfahrt des 10.23 Uhr und des 10.26 Uhr in Gegenrichtung.
Siebenreich marschierte zur Schranke und sah, daß Kollege Bettermann sich aus einem Fenster lehnte.
"Tag, Siebenreich, was tust Du so?"
"Hallo, Ko...," Siebenreicht hustete, "Ich warte."
Bettermann lachte und schrie:
"Worauf?"
"Ich weiß nicht."
Der BMW-Fahrer schob seine Sonnenbrille zur Nasenspitze und starrte Siebenreich finster an.
"Wollen wir tauschen, Meister?"
"Nur zu gern", dachte Siebenreich, doch er sagte:
"Dahinten kommt schon der erste Zug – Sie können in ein paar Minuten weiter."
Der Fahrer trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und nagte an der Unterlippe.
Abends beschloß Siebenreich, nicht auf die Tagesschau zu warten. Er schenkte sich ein Glas Wein ein und legte Mahlers Auferstehungssymphonie in den CD-Player. Die Klänge trieben ihn aus dem Sessel, er wanderte im Zimmer herum und nippte am Wein. Nach fünf Minuten klopfte es energisch an die Wohnzimmerwand. Siebenreich seufzte und drehte den Ton leise. Jetzt würde die Musik keinen Toten mehr aufwecken und Siebenreich betrachtete die Linien, die das Parkett bildete. Schließlich ging er ins Bett und wartete auf den Schlaf.
Eines Vormittags fand er im Briefkasten eine Einladung seiner Kirchengemeinde zum Seniorentanz. Er war seit Jahrzehnten nicht mehr in der Kirche gewesen, erwog aber, die Einladung anzunehmen und sah sich mit anderen Rentnern im Kreis herumtapsen, woraufhin er beschloß, nicht mehr zu warten. Er setzte sich an den Küchentisch und sagte zu seiner Teekanne:
"Ich muß etwas Neues probieren. Wenn ich zuviel Zeit habe, muß ich sie verschwenden."
Um 11.00 schloß er tatendurstig die Augen und öffnete sie nach einer Ewigkeit wieder. Es war 11.01 Uhr.
Er dachte: "Die Zeit ist ein spitzes Steinchen in meinem Schuh."
Dann ging er in den Park, setzte sich auf eine Bank und feuerte die Enten in ihrem Kampf um Brotkrumen an. Etwas Buntes glänzte an seinem linken Nasenflügel, erschreckt fuchtelte er mit der Hand und schlug das Gefunkel mühelos entzwei.
"He, das ist doch bloß ‘ne Seifenblase. Keine Angst."
Ein kleines Mädchen hielt ihm einen Plastikring hin.
"Willst Du auch mal? Einfach durchpusten."
Siebenreich nahm den Ring und pustete. Eine Blase wölbte sich vor, zerplatzte und legte sich spinnwebzart auf sein Gesicht. Er schmeckte Spülmittel und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund, während das Mädchen kicherte.
"Nicht so doll!."
Der nächste Versuch gelang, die zarte Kugel hing eine Weile in der Luft und löste sich auf.
"Schmerzlos", dachte Siebenreich, "ein bißchen Schillern und dann einfach verschwinden. Ich schillere nicht, ich warte und eines Tages werde ich platzen und aus meinen Eingeweiden quellen Massen von verfaulten Sekunden."
Hatte er laut gedacht? Das Mädchen starrte ihn an und rannte davon.
"Huh, Siebenreich der Kinderschreck," dachte Siebenreich und: "Vielleicht sollte ich mir einen Hund kaufen."
Abends klingelte das Telefon, es war Bettermann.
Was machst Du?"
"Ich warte."
"Komm rüber zu uns, Cousine Laura ist zu Besuch und hat Lust auf eine Partie Doppelkopf."
Cousine Laura hatte kurze graue Locken und einen großen Mund und drückte kräftig Siebenreichs Hand.
"Sie sind also auch Schrankenwärter und lassen die Menschen warten?"
"Nein. Und in Wahrheit kannte ich das Warten überhaupt nicht, obwohl ich immer meinte, damit vertraut zu sein."
Außerdem hatte Cousine Laura ein Faible für Lakritze und Lyle Lovett und Siebenreich staunte über die Häufung des Buchstabens "L" in ihrem Leben.
"Zufall", winkte Cousine Laura ab, "obwohl – viele schöne Dinge beginnen mit L."
"Liebe, Lust und Leidenschaft", dachte Siebenreich und räusperte sich. Cousine Laura grinste und spielte gut, doch Siebenreich gewann. Er erschien fünf Abende hintereinander bei Bettermanns zum Doppelkopf.
Am sechsten Abend stand er im Badezimmer, starrte sein Spiegelbild an und wartete, daß es Zeit wurde, sich auf den Weg zu machen.
"Wie lange Laura wohl noch bleibt? Ob ihr Mahler gefallen würde? Und wer, zum Teufel, ist Lyle Lovett? Vielleicht sollte ich eine Flasche Wein mitnehmen? Den von der Mosel mit der Note von Honig und Orangenmarzipan, oder nein, natürlich den Roten von der Loire mit dezenten Anklängen an grüne Paprika ... ."
Siebenreich sann noch immer darüber nach, welches Aroma für Laura passend wäre, als das Telefon klingelte.
"Was machst Du denn?" fragte Bettermanns Stimme.
"Ich ...", Siebenreich schaute auf die Uhr und das "warte" blieb ihm im Hals stecken. Er war eine halbe Stunde über die Zeit und bekam einen Schluckauf.
"Ich hicks verschwende die hicks Zeit!" jubelte er und legte mit dem Telefonhörer eine kesse Sohle aufs Parkett.

Klecks.jpg (821 Byte)