Siebenreich
in Rente
Um 13.58 Uhr an einem
sonnigen Freitag im Juli sah Schrankenwärter Siebenreich aus dem Fenster auf vier
wartende Autos und ein Fahrrad. Er trug schon seit Jahren keine Uniform mehr, tippte
jedoch kurz an einen imaginären Mützenschirm und ließ die Schranke hochgehen. Kollege
Bettermann klopfte ihm auf die Schulter.
"Schichtwechsel in die Freiheit, Kollege! Gratuliere, endlich hast Dus
geschafft. Ich darf gar nicht daran denken, wie lange es für mich noch dauert!"
"Ach, ich hab nicht darauf gewartet. Und die paar Jahre ... !"
Siebenreich faltete ein letztes Mal sein fettiges Butterbrotpapier Kante auf Kante zu
einem kleinen Päckchen und beförderte es mit einem Wurf in den Papierkorb, dann wischte
er sich die rechte Hand an der Hose ab, bevor er sie Bettermann zum Schütteln reichte.
Um 14.06 schloß Siebenreich die Tür des Postens hinter sich und mit dem
Schrankenwärterdasein ab.
Am nächsten Morgen erwachte er um 5.45 Uhr. Das Morgenlicht zwängte sich durch die
Ritzen der Jalousie und stempelte einen verschwommenen Schattenkäfig an die Wand, der ihm
früher nie aufgefallen war. Siebenreich dachte:
"Ich muß nicht aufwachen. Ich kann liegenbleiben. Ich bin frei."
Er wartete bis acht, dann warf er die Daunendecke zur Seite und schob sich mit
schrecklichen Kopfschmerzen und zuckenden Kniegelenken auf die Bettkante.
Eine Woche lang stand Siebenreich jeden Morgen zur selben Zeit mit wehem Kopf auf. Er
frühstückte, sah zu, wie der Honig in langen Fäden auf den Toast tropfte, las die
Zeitung und wartete darauf, daß es Zeit wurde, für das Mittagessen zu sorgen. Nach dem
Einkaufen hackte er akkurat Gemüse, briet Reis oder reduzierte einen Hühnerfonds, wusch
und ab und wartete auf die Kaffeezeit. Er bügelte Hemden und sah den Wölkchen hinterher,
die er aus seinem Staubtuch schüttelte, schaltete den PC ein, schrieb e-mails an seine
Tochter. Er wartete auf das Abendessen und die Tagesschau. Um 23.00 Uhr ging er zu Bett.
In der zweiten Woche machte Siebenreich einen Spaziergang zum Schrankenposten. Ein
BMW-Cabrio wartete auf die Durchfahrt des 10.23 Uhr und des 10.26 Uhr in Gegenrichtung.
Siebenreich marschierte zur Schranke und sah, daß Kollege Bettermann sich aus einem
Fenster lehnte.
"Tag, Siebenreich, was tust Du so?"
"Hallo, Ko...," Siebenreicht hustete, "Ich warte."
Bettermann lachte und schrie:
"Worauf?"
"Ich weiß nicht."
Der BMW-Fahrer schob seine Sonnenbrille zur Nasenspitze und starrte Siebenreich finster
an.
"Wollen wir tauschen, Meister?"
"Nur zu gern", dachte Siebenreich, doch er sagte:
"Dahinten kommt schon der erste Zug Sie können in ein paar Minuten
weiter."
Der Fahrer trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und nagte an der Unterlippe.
Abends beschloß Siebenreich, nicht auf die Tagesschau zu warten. Er schenkte sich ein
Glas Wein ein und legte Mahlers Auferstehungssymphonie in den CD-Player. Die Klänge
trieben ihn aus dem Sessel, er wanderte im Zimmer herum und nippte am Wein. Nach fünf
Minuten klopfte es energisch an die Wohnzimmerwand. Siebenreich seufzte und drehte den Ton
leise. Jetzt würde die Musik keinen Toten mehr aufwecken und Siebenreich betrachtete die
Linien, die das Parkett bildete. Schließlich ging er ins Bett und wartete auf den Schlaf.
Eines Vormittags fand er im Briefkasten eine Einladung seiner Kirchengemeinde zum
Seniorentanz. Er war seit Jahrzehnten nicht mehr in der Kirche gewesen, erwog aber, die
Einladung anzunehmen und sah sich mit anderen Rentnern im Kreis herumtapsen, woraufhin er
beschloß, nicht mehr zu warten. Er setzte sich an den Küchentisch und sagte zu seiner
Teekanne:
"Ich muß etwas Neues probieren. Wenn ich zuviel Zeit habe, muß ich sie
verschwenden."
Um 11.00 schloß er tatendurstig die Augen und öffnete sie nach einer Ewigkeit wieder. Es
war 11.01 Uhr.
Er dachte: "Die Zeit ist ein spitzes Steinchen in meinem Schuh."
Dann ging er in den Park, setzte sich auf eine Bank und feuerte die Enten in ihrem Kampf
um Brotkrumen an. Etwas Buntes glänzte an seinem linken Nasenflügel, erschreckt
fuchtelte er mit der Hand und schlug das Gefunkel mühelos entzwei.
"He, das ist doch bloß ne Seifenblase. Keine Angst."
Ein kleines Mädchen hielt ihm einen Plastikring hin.
"Willst Du auch mal? Einfach durchpusten."
Siebenreich nahm den Ring und pustete. Eine Blase wölbte sich vor, zerplatzte und legte
sich spinnwebzart auf sein Gesicht. Er schmeckte Spülmittel und wischte sich mit dem
Ärmel über den Mund, während das Mädchen kicherte.
"Nicht so doll!."
Der nächste Versuch gelang, die zarte Kugel hing eine Weile in der Luft und löste sich
auf.
"Schmerzlos", dachte Siebenreich, "ein bißchen Schillern und dann einfach
verschwinden. Ich schillere nicht, ich warte und eines Tages werde ich platzen und aus
meinen Eingeweiden quellen Massen von verfaulten Sekunden."
Hatte er laut gedacht? Das Mädchen starrte ihn an und rannte davon.
"Huh, Siebenreich der Kinderschreck," dachte Siebenreich und: "Vielleicht
sollte ich mir einen Hund kaufen."
Abends klingelte das Telefon, es war Bettermann.
Was machst Du?"
"Ich warte."
"Komm rüber zu uns, Cousine Laura ist zu Besuch und hat Lust auf eine Partie
Doppelkopf."
Cousine Laura hatte kurze graue Locken und einen großen Mund und drückte kräftig
Siebenreichs Hand.
"Sie sind also auch Schrankenwärter und lassen die Menschen warten?"
"Nein. Und in Wahrheit kannte ich das Warten überhaupt nicht, obwohl ich immer
meinte, damit vertraut zu sein."
Außerdem hatte Cousine Laura ein Faible für Lakritze und Lyle Lovett und Siebenreich
staunte über die Häufung des Buchstabens "L" in ihrem Leben.
"Zufall", winkte Cousine Laura ab, "obwohl viele schöne Dinge
beginnen mit L."
"Liebe, Lust und Leidenschaft", dachte Siebenreich und räusperte sich. Cousine
Laura grinste und spielte gut, doch Siebenreich gewann. Er erschien fünf Abende
hintereinander bei Bettermanns zum Doppelkopf.
Am sechsten Abend stand er im Badezimmer, starrte sein Spiegelbild an und wartete, daß es
Zeit wurde, sich auf den Weg zu machen.
"Wie lange Laura wohl noch bleibt? Ob ihr Mahler gefallen würde? Und wer, zum
Teufel, ist Lyle Lovett? Vielleicht sollte ich eine Flasche Wein mitnehmen? Den von der
Mosel mit der Note von Honig und Orangenmarzipan, oder nein, natürlich den Roten von der
Loire mit dezenten Anklängen an grüne Paprika ... ."
Siebenreich sann noch immer darüber nach, welches Aroma für Laura passend wäre, als das
Telefon klingelte.
"Was machst Du denn?" fragte Bettermanns Stimme.
"Ich ...", Siebenreich schaute auf die Uhr und das "warte" blieb ihm
im Hals stecken. Er war eine halbe Stunde über die Zeit und bekam einen Schluckauf.
"Ich hicks verschwende die hicks Zeit!" jubelte er und legte mit dem
Telefonhörer eine kesse Sohle aufs Parkett.
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