Sultan
Was passiert, wenn das kranke und
liebste vierbeinige Familienmitglied stirbt?
(Näheres dazu hier)
Im ersten Schmerz schwört man sich, daß kein anderer Hund es jemals ersetzen wird.
Jedenfalls ging es mir so. Dennoch - wie sagte mal jemand so schön - klar kann man ohne
Hund leben, es lohnt sich bloß nicht.
Nach ein paar Wochen wurde immer deutlicher, daß im Haus das gewisse Etwas fehlte und so
fanden wir unseren Weg in Hannovers Tierheim und gingen für einige Zeit mit
unterschiedlichsten Hunden spazieren. Nicht, daß nicht der eine oder andere wirklich
nette Vertreter seiner Art darunter gewesen wäre, nicht, daß sich "der
Richtige" nicht hätte finden lassen.
Aber für mich traf nicht zu, was ja häufig geraten wird: sich nach dem Tod eines Hundes
möglichst schnell den nächsten anzuschaffen, um so schneller über die Leere
hinwegzukommen. Ich konnte mir lange nicht vorstellen, daß ein anderer Hund Santos Platz
einnehmen sollte - für mich war es absolut richtig, einige Monate zu warten (und Santos
läßt sich auch nicht durch den neuen Hund "ersetzen", der einen ganz anderen
Platz einnimmt).
Eines Tages nun bekam das Tierheim
einen neuen Insassen: den sechseinhalbjährigen Schäferhundcolliemix Sultan. War es Liebe
auf den ersten Blick? Keineswegs. Sultan schien uns weder ein besonders angenehmes Wesen
zu haben noch fanden wir ihn ausgesprochen hübsch. Wenn er in seinem Zwinger war, knurrte
und bellte er ziemlich böse jeden an, der davorstand. Auf den Spaziergängen war er sehr
distanziert, ignorierte unsere Spielangebote völlig und lief gerade mal so eben gnädig
neben uns her ohne uns weiter zu beachten. Nach dem Spaziergang dann wieder dasselbe Bild
- hatten wir ihn im Zwinger abgeliefert, fletschte er uns an. Und sonst? Nun, er hatte
ausgesprochen schlechte Zähne (Tennisballgebiß) und einmal kurz nach seiner Ankunft im
Heim eine Pflegerin gebissen. Nicht gerade ein Charmebolzen von Traumhund..
Wir machten dann ersteinmal Urlaub in
der Pfalz. Als wir nach zwei Wochen wiederkamen, war Sultan noch da und es gab auch keine
Interessenten für ihn. Die gebissene Pflegerin gehörte inzwischen zu seinen Freundinnen
und überhaupt war er stark auf die Tierheimitarbeiter fixiert. Meinen Mann und mich nahm
er zur Kenntnis, schien sich sogar ein wenig zu freuen, uns wiederzusehen, doch er blieb
weiterhin distanziert. Auch im Freilaufgehege reagierte er zögerlich bis gar nicht auf
unsere Spielangebote und saß viel am Tor, wo er nach seinen Pflegerinnen heulte. Eins war
klar: er suchte nach Bezugspersonen und wendete sich auch nicht so leicht von ihnen ab,
wenn er sie mal gefunden hatte.
Was uns an Sultan gefiel, war seine Akzeptanz gegenüber allen anderen Hunden, auch, daß
er gut an der Leine ging und gegen Radfahrer und Jogger offenbar nichts hatte. Außerdem
war ich auf der Suche nach einem eher ruhigen älteren Hund, mit dem das Leben nicht gar
so aufregend sein würde und dem man nicht mehr alles vom ABC an beibringen mußte. Im
Tierheim erzählte man uns, Sultan habe bei einer älteren Person (die gestorben war) auf
dem Dorf gelebt, quasi als Hofhund. Er wurde als verträglich, ruhig und absolut
stubenrein eingestuft, allerdings mit einem Hang zum Beschützen gegenüber Fremden (was
wir aber - da nicht ganz hundeunerfahren - sicher in den Griff bekämen.) Sultan kam also
in die engere Wahl und recht bald entschieden wir uns, ihn zu uns zu nehmen.
Da niemand wußte, wie Sultan es mit dem Autofahren hielt, waren wir sehr erfreut, daß er
die Fahrt zu uns nachhause völlig problemlos hinter sich brachte - natürlich etwas
aufgeregt, aber wer wäre das in seinem Fall nicht gewesen.
Zuhause war dann alles ganz okay, er machte nicht den Eindruck, als trauere er dem
Tierheim nach, aber er war natürlich verunsichert und sollte deshalb erstmal ein paar
Tage soviel Ruhe wie möglich bekommen. Meinen Eltern gegenüber, die auch im Haus wohnen,
verhielt er sich eher distanziert bis mißtrauisch, an meinen Mann und mich schloß er
sich aber gleich eng an.
Er folgte uns überall hin, traute sich aber nicht in den Keller. Ich habe dann am zweiten
Tag versucht, ihn mit einem Leckerchen hinunterzulocken und das klappte auch gut. Aber als
er im hintersten Kellerzimmer war, wollte er nicht wieder raus. Weder gute Worte noch
wohlschmeckendste Happen konnten ihn bewegen, den Raum zu verlassen. Er zitterte und
verkroch sich unter Tischen und in Ecken. Wir riefen einen Tierarzt an, der uns vorschlug,
Vetranquil zu holen und Sultan eine Tablette zu geben, die ihn so weit beruhigen würde,
daß wir ihn wieder nach oben bugsieren könnten. (Tragen wollte er sich natürlich nicht
lassen - das mag er sowieso nicht besonders, daran müssen wir noch arbeiten.) Also fuhr
mein Mann los und ich blieb bei Sultan, setzte mich neben ihn und versuchte, ihn zu
beruhigen. Und dann schafften wir zwei es doch noch, uns Zentimeter für Zentimeter bis
zur Kellertreppe vorzuarbeiten - mit einem Belohnungshappen setzte ich mich immer ein
kleines Stückchen weiter von ihm weg und lockte ihn, lobte ihn und ließ ihn neben mir
Platz machen, wenn er kam, damit er das Gefühl hatte, daß er bleiben könne, wo er wolle
und wielange er wolle. Insgesamt hat die Prozedur wohl so eineinhalb Stunden gedauert.
Aber einmal an der Kellertreppe angelangt, schoß er wie der Blitz nach oben, und ich war
erleichtert, daß er die Tabletten nicht benötigte.
Allerdings macht man sich nach so
einer Sache natürlich seine Gedanken. Woher diese Angst vor Kellerräumen? War Sultan
vielleicht früher im Keller eingesperrt worden? Leider sollte es nicht bei diesem
seltsamen Verhalten bleiben. Um es kurz zu machen: als ein paar Tage später erster Besuch
ins Haus kam - das heißt: wir befanden uns im Garten - rannte Sultan in geduckter Haltung
zu einem Gast und schnappte in dessen Hand, rannte wieder weg und warf sich vor mir auf
den Rücken. Sultan war weder bedrängt noch sonst in irgendeiner Weise provoziert worden.
Ganz eindeutig handelte es sich hier nicht um ein von Wach- oder Schutzhaltung
angetriebenes Verhalten, sondern um pure Angst. Gut, der Biß war nicht sehr gravierend,
die Verletzungen rührten hauptsächlich daher, daß die Hand zurückgezogen wurde
(natürlich - wer würde schon soviel Disziplin aufbringen, eine Hand, die attackiert
wird, einfach weiter ruhig hinzuhalten), doch wir waren geschockt und sehr verunsichert.
Nachfragen im Tierheim führten immerhin dazu, daß unsere Telefonnummer an Menschen
weitergeben wurde, die Sultan vor dem Heim kannten. Diese Menschen haben sich dann
tatsächlich bei uns gemeldet und uns sehr weitergeholfen. Wir verstehen nicht, warum es
dem Tierheim offenbar nicht möglich war, Sultans Vorgeschichte zu recherchieren - es hat
uns ja auch nichts weiter als ein paar Telefonate gekostet, mehr über Sultan zu erfahren.
Und noch viel weniger verstehen wir, warum man uns offenbar unrichtige Informationen gab -
Sultan lebte zwar bei einer älteren Einzelperson, aber nicht in einem Dorf und schon gar
nicht als "Hofhund".
Nach unseren Informationen wurde Sultan in den ersten eineinhalb Lebensjahren schwer
mißhandelt und schließlich aus diesen schlimmen Verhältnissen in hundeerfahrene Hände
gerettet. Er wurde dort sehr gut erzogen und führte wohl ein eher ruhiges Leben - so
ruhig, daß er sich an Gäste im Haus nicht gewöhnen konnte. Außerdem waren die letzten
Monate vor dem Tierheim für ihn nicht leicht, da seine Bezugsperson schwer erkrankt war.
Kein Wunder also, daß Sultan emotional ziemlich "von der Rolle war", kein
Wunder, daß ihn viele Ängste plagten.
Aber das alles ist natürlich nicht Sultans Schuld und nach dem ersten Entsetzen und den
ersten Informationen über ihn, entschlossen wir uns, Sultan zu behalten und unser
Möglichstes zu tun, ihm über seine Ängste hinzwegzuhelfen. Wir verstehen jetzt, warum
er ist, wie er ist - bösartig ist er nun ganz und gar nicht - und hoffen, daß es ihm
gelingt, mit seiner Vergangenheit klarzukommen. Erste Erfolge haben sich auch schon
eingestellt, da Sultan sich auch bereits viel besser eingelebt hat.
(Er lernt sehr schnell, gehorcht ausgezeichnet und hatte übrigens schon nach wenigen
Tagen überhaupt kein Problem mehr, in den Keller zu gehen, wann immer ihm danach ist.)
Wer sich für die Schwierigkeiten interessiert: hier geht es weiter zu Sultans Problemen.
Und so sieht Sultan aus: