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Der Windhund

Der Windhund bleibt reglos, als sich die Schritte nähern. Aus den anderen Käfigen schallt wütendes, gieriges, freudiges Gebell, Näpfe scharren über den Betonboden, Gittertüren fallen in Schlösser. Er hört die Schritte in seinem Käfig, der Mann, der jeden Morgen kommt, bückt sich, streicht über seinen Rücken und sagt :
"Hook, alter Freund, Dein Frühstück."
Er war immer namenlos und hatte nie Freunde, aber er weiß, daß der Mann ihn meint. Trotzdem hält er die Augen geschlossen und rührt sich nicht. Der Mann schiebt ihm den Napf hin, verläßt den Käfig und schließt leise die Tür hinter sich. Witternd hebt er die Schnauze, aber er wartet ab, bis sich die Schritte entfernen, bevor er das Fressen begutachtet. Leicht schwankend steht er auf, findet rasch sicheren Stand und frißt, leckt den Napf sorgfältig sauber. Dann legt er sich in eine Ecke des Käfigs, döst, fällt in einen leichten Schlaf.
Rennen, rennen, immer wieder die Runde, dem Hasenfell hinterher, vor sich, neben sich, hinter sich andere Körper in keuchender Bewegung, rennen, bis die Gelenke glühen, die Pfoten bluten, die Lunge sich mit flüssigem Eisen füllt, immer wieder, das Ziel kommt näher, Menschen brüllen, er schnappt ins Leere, rennt weiter ...
Er schreckt hoch, als sein Nachbar knurrend gegen das Gitter anspringt. Eine Ursache für die Aufregung kann er nicht entdecken. Er sieht nur die dürren, niedrigen Sträucher auf dem Gelände, auf dem er einmal pro Tag mit dem Mann, der ihm das Fressen bringt, herumläuft. Seine neue Heimat ist nicht groß, aber das erschreckt ihn nicht, denn so war es schon immer. Das Land, in dem er geboren wurde, kannte er nicht. Er kannte nur die Rennbahn und den dunklen Verschlag, in dem er wartete. Es war kühl und die Luft roch frisch und salzig. Er vergaß die Luft, vergaß alles, wenn er vom Start lossprintete. War er schnell, war sein Besitzer zufrieden, doch bald streikten seine Gelenke und sie brachten ihn fort, in ein anderes Land, wo es wärmer war. Aber auch dort sperrten sie ihn in einen engen Käfig und ließen ihn nur zum Rennen hinaus. Oft hatte er Hunger und Durst. Die Sonne stach auf seinen Rücken, wenn er lief. Er strengte sich an, doch die Schmerzen wurden schlimmer, seine Kraft ließ nach und er verlor immer häufiger den Anschluß an die Meute.
Eine Stelle hinter seinem linken Ohr juckt, er kann sich nicht kratzen, sondern schüttelt heftig den Kopf, um das Jucken zu vertreiben. Er leckt seine Vorderpfoten und rückt ein Stück nach vorn, in einen Sonnenfleck, der den Boden erwärmt. Obwohl er kaum Bewegung hat, ist er müde. Er gähnt, sein Kopf sinkt auf die Pfoten.
Zwei Männer kommen, heben ihn aus seinem Käfig in ein Auto. Er zittert. Das Auto hält, sie zerren ihn hinaus und drücken ihn auf den Boden. Die Erde ist weich, riecht würzig, über sich sieht er Baumwipfel und blauen Himmel. Plötzlich zerreißt ein scharfer Schmerz sein linkes Hinterbein. Er öffnet das Maul und schreit. Dumpf hört er Stimmen, eine tiefe, eine höhere, die Männer springen ins Auto, fahren weg. Er winselt, jemand schluchzt, es wird dunkel ...
Im Traum stößt er winzige Laute aus, die Pfoten zappeln, der Stummel seines Hinterbeins zuckt. Er erwacht und sieht sich verwirrt um. Jemand steht vor seinem Käfig und starrt zu ihm hinunter. Die Menschen, die jeden Tag vorbeikommen, stören ihn nicht mehr. Meistens bleiben sie nur kurz stehen, manche lachen, andere schütteln den Kopf und gehen weiter. Nie macht er Anstalten, sich ihnen zu nähern wie sein Nachbar, der seine Schnauze an das Gitter preßt und versucht, die Hände der Besucher zu lecken. Manchmal wird sein Nachbar aus dem Käfig geholt und verschwindet für eine Weile mit den Besuchern. Er will nur, daß sie ihn in diesem neuen Käfig in Ruhe lassen.
Als er damals aus der Dunkelheit erwachte, war er verwirrt und verängstigt und ihm fehlte ein Bein. Es tat weh, aber er war Schmerzen gewöhnt. Stundenlang lag er im warmen Sand, ignorierte das Gewimmel seiner Artgenossen und wartete. Manchmal lief er umher, zuerst unsicher, später mit dem gewohnten Gleichgewicht. Irgendwann steckten ihn in eine kleine Kiste und seine nächste Erinnerung ist der Ort, an dem es keine Schmerzen gibt: dieser Käfig.
Vor dem noch immer jemand steht und ihn beobachtet. Er dreht den Kopf zur Seite und wünscht sich, der Jemand würde weitergehen wie alle anderen Besucher.
"Hallo, du?"
Nun schaut er hin und sieht eine Frau, die dicht am Gitter hockt und zwei Finger hindurchsteckt. Wohlbekannte Schritte nähern sich und der Mann, der ihm sein Fressen bringt, stellt sich neben die Frau und sagt:
"Das ist Hook. Er ist ein Greyhound, kommt aus Spanien, wahrscheinlich ursprünglich aus Irland."
"Was ist mit ihm passiert?"
"Das Übliche. Sie haben ihn bei kommerziellen Hunderennen laufen lassen, bis er zu kaputt war, um noch Gewinn zu bringen. Meistens werden die Tiere von Irland nach Spanien verschachert, wenn sie’s nicht mehr bringen und bei den dortigen Rennen endgültig verschlissen."
"Aber wieso ist er hier?"
"Tja, die Spanier haben keine Lust, für die ausgemusterten Windhunde das Geld für die Todesspritze zu bezahlen. Es gibt kostengünstiger Methoden. Meistens werden sie mit einer Drahtschlinge um den Hals an einen Baum gehängt, wo sie verenden. Manchmal schlitzt man ihnen den Bauch auf. Und manchmal hackt man ihnen eben ein Bein ab und läßt sie verbluten. Einfach und kostengünstig."
Der Mann spuckt auf den Boden, bevor er weiterspricht:
"Touristen haben ihn gefunden, das Bein abgebunden und ihn in ein spanisches Tierheim gebracht, wo er wieder aufgepäppelt wurde. Und von dort ist er mit Flugpaten nach Deutschland gekommen. Wir versuchen jetzt, ihn möglichst schnell an ein gutes Zuhause zu vermitteln. Naja, wer nimmt schon einen Krüppel wie ihn?!"
"Könnte ich ihn mir mal näher ansehen?"
"Klar. Er ist scheu, aber er tut niemandem etwas. Ich hole eine Leine und bringe ihn ins Freigehege, dann können Sie sehen, ob Sie mit ihm zurechtkommen."
Zögernd folgt er dem Mann, der ihm morgens das Fressen bringt und ihn nun mit der Frau alleinläßt. Die Frau sitzt auf einer Bank, wedelt mit der Hand und säuselt: "Hook, Hook." Er weiß nicht, was sie von ihm will und legt sich in die entfernteste Ecke. Eine Weile passiert nichts, dann kommt sie zu ihm und kniet sich neben ihn. Seine Nackenhaare sträuben sich, als sie ihm die Hand hinhält. Er schnüffelt und legt den Kopf auf den Boden. Sie zieht die Hand zurück und seufzt. Endlich steht sie auf und sagt:
"Das wird wohl nicht ganz einfach, aber wir schaffen es schon. Komm jetzt, gehen wir zurück."
Sie legt ihm die Leine an und hält sie locker, als sie das Gatter des Geheges öffnet. Er beobachtet das Gatter, zwängt sich blitzschnell durch die Öffnung und reißt ihr die Leine aus der Hand. Eine Sekunde braucht er zur Orientierung, dann rennt er los, rennt, durch das große Tor, eine Böschung hinauf, auf die Straße. Hetzt weiter, geradeaus, rennt, rennt, auf drei Beinen immer noch schneller als die Menschen, die ihn nicht in Ruhe lassen, rennt ...

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