Zitronenfalter
Der Morgen
strotzte vor Zuversicht, doch Lena erwartete von ihrem fünfundachzigsten Frühling keine
Annehmlichkeiten. Sie öffnete die Augen in einer Zwischenwelt aus Licht und Schatten, die
sie noch vor ein paar Monaten genossen hätte wie ein Bad in warmen Wellen. Gegen jedes
Gefühl träger Zufriedenheit kniff sie sich kräftig in die Brust bis ihr die Tränen
kamen. Sie lauschte. Die Vögel vor ihrem Fenster feierten enthusiasitsch einen weiteren
Tag wie Samt und Seide und Lena schüttelte den Kopf: nun war sie gottlob halb taub
aber dennoch diesem Lärm der Unwissenheit ausgeliefert. Scheußlich! Frühling, Frühling
Lena drehte sich zur fensterabgewandten Seite und zog die Decke über den Kopf. Sie
wartete, und, natürlich, wie jeden Morgen schrillte das Telefon.
"Ich bins. Bist du wach?"
Dämliche Frage. Wie, glaubte die alte Kuh, hätte sie sonst den Hörer abnehmen können!
"So ein herrlicher Tag! Die Wärme, die Farben, die Vögel! Laß uns doch einmal
wieder im Garten frühstücken."
Alberne Euphorie. Das war typisch für Alice, ihre Nachbarin zur Rechten, diese
Kaffeekränzchen-Oma mit einer Vorliebe für Kostüme und Rüschenblusen, die den Hut auf
dem blaugefärbten Haar behielt, während sie ihre Schwarzwälder Kirschtorte gabelte.
Greta hatte Alice "unsere Bonbonnière" getauft.
"Laß mich in Ruhe, Alice"
Lena ließ den Hörer auf den Apparat fallen und sich selbst zurück in die Kissen. Sie
wollte keinen Frühling, keine Frühlingsgefühle, und ganz besonders wollte sie keine
energiegeladenen Mitmenschen, die ihr mit strahlender Laune den letzten Nerv raubten. Seit
acht Monaten und elf Tagen wartete Lena darauf, endlich zu sterben. Bei Gretas Beerdigung
hatte sie kurz die Hand auf den Sarg gelegt und ihrer großen Schwester, ihrer lieben
Schwester, versprochen, bald nachzukommen. Fünfzehn Jahre Harmonie, beendet mit einem
Schwur, der fortan jeden Anflug von Freude rasch und sicher guillotinierte. Lena hob den
linken Arm und registrierte zufrieden das heftige Zittern.
Der Rausch, den die Betrachtung ihres zunehmenden Verfalls erzeugte, verflog mit einem
Huschen: ein Zitronenfalter hatte den Weg durch ein Oberlicht gefunden. Widerwillig folgte
ihr Blick den Kapriolen, und plötzlich dachte sie: "Gelb. Alice." Sie wedelte
ärgerlich mit der Hand. Weg mit dem Schmetterling und weg mit der lästigen Assoziation,
die aus Tiefen aufgetaucht war, die unerforscht bleiben sollten.
Doch Alice war schon immer hartnäckig gewesen. Sie hatte bereits im Nebenzimmer gewohnt,
als Lena und ihre Schwester sich für das Doppelzimmer in dem privaten Seniorenheim
"Herbststille" entschieden, dessen Name Greta düstere Orakel entriß:
"Ich sehe schon, wie der November des Lebens sein welkes Laub auf unsere
gramgebeugten Häupter rieseln läßt, während wir uns ergeben dem unausweichlichen Ende
entgegenschleppen!"
Aber von Gram war in diesen letzten Jahren nicht viel zu spüren gewesen. Sie hatten Spaß
gehabt mit - ja, mit Alice, die unkonventioneller war, als ihre Erscheinung befürchten
ließ.
"Du konservierst die adrette, aber doch ein wenig exzentrische Alte, was?",
hatte Greta einmal gefragt, als Alice sie durch ihr verschnörkeltes Lorgnon fixierte.
"Willkommen im Club!", spuckte Alice zurück, während sie mit gespieltem
Befremden das Lorgnon auf die Zigarre gerichtet hielt, die Greta sich gerade anzünden
wollte.
Dann war da noch Albert gewesen, ihr Nachbar zur Linken, der mit seiner Attitude des
Herzensbrechers alter Schule belustigte. Und jetzt erinnerte sich Lena: eines Morgens
hatte sie gesehen, wie Alice im quietschgelben Unterrock über den Balkon schlich, der
sich über die Hausfront hinzog und ihre drei Zimmer miteinander verband.
"Wie die Zitronenfalter," hatte Greta geschmunzelt, "sie überwintern und
paaren sich im Frühling. Und Alice ist schließlich erst achtundsiebzig, die Glückliche.
Aber wenn sie schon so heimlich tun will, sollten wir ihr wirklich raten, auf diese
Signalfarbe zu verzichten."
Keine trauten Zweisamkeiten, keine liebevollen Tändeleien mehr! Greta war tot, Albert,
bettlägerig geworden, vor kurzem in ein Pflegeheim umgezogen, und Alices Exaltiertheiten
wurden immer unerträglicher.
Lena betrachtete das Foto auf ihrem Nachttisch: Greta an ihrem neunzigsten Geburtstag, in
die Kamera grinsend, die Hand mit dem Weinglas zum Toast erhoben. Was? Was sagte sie da
... ?
"Na klar", höhnte Lena, "ein Foto, das anfängt, zu reden. Und dann noch
dieses Insekt. Luftig wie ein Zitronenbaiser, wie?"
Das Tier mußte verschwinden, und zwar augenblicklich, das Leben war kein zartes Gebäck,
das locker und süß auf der Zunge schmolz. Und schon gar nichts für Leute mit
klapperndem Gebiß! Lena beschloß, nicht, wie gewöhnlich, auf Hilfe zu warten und schob
die Beine aus dem Bett. Ihr war schwindelig, aber sie kämpfte sich vorwärts, und als sie
endlich die Balkontür öffnete, flatterte der Falter rasch an ihr vorbei. Überwältigt
von der Fülle der Möglichkeiten, die sich ihm bot, nahm er auf dem Balkongeländer
Platz, an das auch Lena trat, ohne einen Blick an die schwellende Natur zu verschwenden.
Sie starrte hinunter auf den Rasen und fragte sich, ob sie tot wäre, wenn sie sich
hinunterstürzte. Aus dem ersten Stock? Wenn sie es geschickt anstellte, mit einem
Kopfsprung? Natürlich hatte sie nicht wirklich vor, sich umzubringen, denn es konnte ja
jetzt nicht mehr allzu lange dauern ... . Lena seufzte, drehte sich um und sah sich den
entgeisterten Blicken dreier Augenpaare ausgesetzt.
Hinter dem Fenster von Alberts ehemaligem Zimmer standen zwei Männer und eine Frau, und
ihr fiel wieder ein, daß für heute Morgen eine Besichtigung des freien Raumes
angekündigt worden war. Da sollte Opa die im Hausprospekt gepriesene "niveauvolle
Atmosphäre" schmackhaft gemacht werden, und stattdessen präsentierte sich eine alte
Schachtel, barfuß, mit wirrem Haar, die ein altes Nachthemd trug, das sie eigentlich
schon vorgestern in die Wäsche hatte geben wollen, und die ihre eingefallenen Kniekehlen
zur Schau stellte. Lena stand hilflos festgenagelt vor dem angewiderten Trio, das sich
keine Mühe gab, seine Mißbilligung zu verbergen. Doch plötzlich richtete sich die
Aufmerksamkeit der Besucher auf einen Punkt hinter ihr.
Sie drehte sich um und sah die schaumigen weißen Wipfel der Kirschbäume, ein paar
violette Pfützen aus Veilchen, das Wogen der Birken, die im Sonnenlicht flirrenden
Forsythien und - Alice, die unten auf dem Rasen stand, ihr Lorgnon gezückt hatte und
Lenas Beobachtern ihre lange rote Zunge herausstreckte.
Wie absurd sie wirken mußten! Da war der große, gepflegte Garten - für Lenas Geschmack
immer ein bißchen zu gekämmt - erfüllt von Farben und Vogelgezwitscher, die perfekte
Frühlingskulisse. Und da war im Vordergrund die Gebrechlichkeit, unterstützt von der
Senilität.
Lena flüsterte: "Danke, Alice", und versuchte, ein Kichern zu unterdrücken.
Beherrschung! Ein Aufblitzen der Guillotine - doch dann platzte sie los, und Alice fiel
ein, und sie lachten, bis sie nach Atem rangen.
Ein Tänzeln streichelte die Luft, und der Zitronenfalter ließ sich auf einer
Magnolienblüte nieder, die so fleischig war, daß Lena am liebsten hineingebissen hätte.
Der Falter klappte energisch mit den Flügeln, als zolle er der Albernheit Beifall, und
Lena deutete eine Verbeugung an.
"Was ist jetzt mit dem Frühstück?" fragte Alice, " an alter Stelle und
mit einem Gläschen Champagner für die Frühlingsgefühle."
Lena blickte hinüber zum efeuberankten Pavillon, dem Schauplatz vieler kulinarischer
Vergnügen mit Greta, Albert und Alice. Sie nickte: ".Und für Greta und
Albert."
Und während sie sich leichtfüßig nunja, jedenfalls beinah - auf den Weg in ihr
Zimmer machte, hörte sie noch. "Vergiß die Zigarren nicht."
Sie warf einen Blick zurück in den Garten, bevor sie die Balkontür schloß. Der
Zitronenfalter war verschwunden, doch sie rief:
"Viel Glück bei der Suche!"
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